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Mein sauprivilegiertes Leben

Mein Leben in der ewigen Suchbewegung … das ist sicher etwas, das mein Bruder nie ganz verstanden hat an mir. Insgeheim legt er es mir als Undankbarkeit aus, das spüre ich. Dass ich nie ganz zufrieden bin mit dem, was ich habe. Dabei bin ich dankbar für alle Segnungen, die das Leben für mich bereithält. Meine Suche nach Austausch und Inspiration, nach neuartigen Gedanken und Gefühlen ist vielmehr Ausdruck einer unzähmbaren Neugierde auf alle Facetten des Lebens.

Ich gebe es ungern zu, aber es stimmt: Ich rege mich noch heute manchmal auf über Lebensformen, die mir allzu spiessig erscheinen. Mein Bruder gründete früh eine Familie, zog direkt von der Mutter zur Ehefrau und kokettiert noch heute damit, er könne keine Spülmaschine bedienen. Mein Spott war ihm gewiss. Das beschauliche Leben im Einfamilienhäuschen auf dem Land, mit der Hypothek und dem selbstfahrenden Rasenmäher erschien mir allzu sehr aufs Bewahren angelegt. Meine Künstlerseele hingegen dürstete es nach hohen Decken, Badewannen mit Löwenfüsschen und Einladungen zu Champagner-Vernissagen. Ein bisschen Boheme, halt.

Im Bewusstsein dieser Unterschiede wuchsen wir heran. Wuchs ich heran.

Inzwischen, so dachte ich, bin ich etwas toleranter geworden und offener für andere Lebensformen. Und dann kehrt es manchmal doch zurück, dieses Unverständnis. Sei es, wenn mir meine Freundin, die gerade Mutter geworden ist, von erworbenen Wickelkommoden, Beistellbetten und Autokindersitzen berichtet oder ich mal wieder fast nicht am Doppelkinderwagen meiner Nachbarn vorbeikomme, wenn ich mein Velo aus dem Keller holen möchte. Dann spannt sich die Feder an, und es braucht nicht mehr viel, bis sie überspannt und zurückschnellt.

Und dann standen meine Nachbarn gestern an der Tür, an der ich aufgeregt klingelte, weil es wie verrückt aus ihrer Küche qualmte. Die ganze Familie ist vergnügt, drei Augenpaare schauen zu mir hoch. Der Vater zeigt mir den Übeltäter: Eine völlig verkohlte Tortilla. In diesem Moment fühle ich mich so versöhnt mit ihnen. Die Fünfjährige erzählt mir noch, dass sie Tortillas am liebsten nur mit Gurken und Crème Fraîche isst und ich denke plötzlich: What.the.fuck. Statt zu stänkern, sollte ich mich lieber einfach vor diesen Menschen verbeugen, die diese Riesenarbeit auf sich nehmen. Drei – DREI – Kinder grosszuziehen und bestimmt keinen Moment für sich haben. Ich hingegen habe alle Zeit der Welt für die Dinge, die mir wichtig sind. Ich kann lesen, wann und so oft ich möchte. Ich kann reisen, bis mir die Ohren wackeln, die Joggingschuhe schnüren, wann immer mir danach ist, Freundinnen und Freunde treffen, ins Yoga gehen, zu allen möglichen Tages- oder Nachtzeiten schreiben, im Wald spazieren gehen, Wellnessurlaube machen, schön essen gehen …

Keine Geiss schleckt es weg: Ich habe echt ein sauprivilegiertes Leben.

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