Holunderblütennachmittage
Vor dem Blumenbeet knie ich mich nieder. Jemand hat Malven gepflanzt. Ich nehme einen Erdklumpen, zerreibe ihn mit den Fingern. Die trockene Erde fühlt sich angenehm kühl an. Es ist die Erde, in die ich hineingeboren wurde. Es ist aber auch die Erde, in der meine Eltern begraben liegen. Das Massaker Leben hat ihnen zugesetzt. Ein schmaler Pfad aus Steinplatten führt ans andere Ende des Gartens. Ich gehe ihn entlang. Langsamen, bemessenen Schrittes. Es ist Oberwind, verkündet meine Grossmutter, als müsste ich genau wissen, was das bedeutet. Sie ist eine Zeichenleserin. Seit ich denken kann, sagt sie das Wetter anhand der Wetterfahnen auf dem Kirchturmdach voraus.
„Bekommst du jetzt kein Heimweh?“, fragte Mutter, wenn ich sie aus dem fernen Südostasien anrief und die Glocken der Kirche schlagen hörte. Die viertelstündlichen Zeitangaben per Glockenschlag bedeuteten mir nie allzu viel. Die Pfarrerstochter mit den Sommersprossen und dem Moskitonetz war meine Freundin, obwohl sie mir in allem überlegen war. Sie war eine Art weiblicher Piratenkönig. Vielleicht wegen dem tansanischen Impfausweis, der ihre Geburt auf dem exotischen Kontinent verbürgte. Abenteuerliche Leben, die abenteuerlich beginnen. Wegen dem weissen Streifen in ihren Haaren – ein Pigmentfehler. Oder ihren Stofftieren: Dem weissen Panther und der Zitronenmaus vor der Abfahrt in die Italienferien – die Insel lockt, ein Ferienhäuschen mit Plumpsklo und Tanz auf dem Kraterrand.
Die Eremitin, die sagt, es kommt nicht darauf an, was einem das Leben gibt, sondern was man daraus macht. Meine Achtung vor der Freundin könnte größer kaum sein. Mit vier hat sie mir das Schaukeln beigebracht. Mit 18 floh sie aus der Enge der Dorfgemeinschaft. Ich bin geblieben. Mit dem Tod meiner Mutter ging ein Auftrag zu Ende.
Ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht als eine Schaukel unter dem Zwetschgenbaum. Doch der Baum war zu morsch, hieß es. Arbeit war wichtig. Gute Gastgeber, das waren meine Eltern. Verhätschelte Hunde haben sie genauso fraglos akzeptiert wie verhätschelte Kinder oder wilde Jugendliche. Nichts Menschliches war ihnen fremd – er, die Liebe meines Lebens, erkennt die Unschuld in meinen Augen. Die Unschuld, die vielleicht nur an einem Ort wie diesem entstehen kann.
Ich habe das Boot geliebt, das meine Eltern besaßen. Zusammen mit dem pinkfarbenen, aufblasbaren Delfin. Meine Eltern haben immer verstanden, dass es Kinder ans Wasser zieht. Faule, sonnige Sonntage auf dem See. Nein, ich habe nie auf dem Kraterrand getanzt, dafür aber mit meinem pinkfarbenen Delfin jede Welle geritten. Oder dann habe ich vorne auf dem Boot gesessen und meine Zehen gezählt. Jemand hat eine Häuschenschnecke an den Holzverschlag gemalt – mit wasserfester Farbe. Seit Jahren lacht die Schnecke mir zu, so wie auch der Gartenzwerg mir schelmisch zuzwinkert.
Später war der Sonntag der hektischste Tag der Woche. Am Sonntag stand das Adrenalin hoch. Da wurde Eis verkauft, Hamburger, Hotdogs … ich kann die Speisekarte heute noch auswendig. Darf ich stolz sein? Ich dürfte es. Während andere Familien an sonntäglichen Holunderblütennachmittagen um den Gartentisch gesessen, Kuchen gegessen und Sirup getrunken haben, waren unsere Sonntage vor allem mit Arbeit angefüllt.
Das Holz ist morsch geworden. Der einzige Baum, der noch steht, ist der Baum, dem ich meine Geheimnisse anvertraut habe. Der Nebel dieser Landschaft im Herbst, die Berge von Zuckerrüben, die bald in die nahe Zuckerfabrik überführt werden – das alles rührt mich an. Ich gehöre in diese Erde, sie hat sich in mich eingeschrieben. Doch ich bin eine Vertriebene. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich geblieben. Für immer.
„Irgendwo muss man seine Wurzeln ja angeben“, sagt die lebenskluge kleine Frau mit dem grünen Band im Haar. Auch sie hat Abschiede erlebt. „Bleibst du bei mir?“, frage ich ihn, und ich meine damit nicht die Dinge, die einem in der Zähigkeit eines grauen Alltags zustoßen können, Geschichten von Fremdgehen oder Fremdlieben. Der Sensenmann ist auf Heimurlaub in der Südsee, sagt er. Der Sonntag ist der Familientag, hätte es sein sollen. Dass er es nicht war, hatte seine Gründe. Aber es gibt keinen Grund, warum er es nicht sein könnte.
In: Dreiundsechzig, Kameru Verlag