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Oh, Robert!

«Das Schöne am Schreiben ist, dass Du es nicht gleich beim ersten Mal richtig machen musst wie bei, sagen wir, einer Gehirnoperation.»

Robert Cormier (1925–2000)

Dieses Zitat hat mich auf meinem Weg als Autorin stets begleitet. Obwohl ich das Werk des US-amerikanischen Schriftstellers und Journalisten Robert Cormier kaum kenne, nahm ich meinen Schreibschüler:innen damit gern die Angst vor dem weissen Blatt. War dieser Vergleich etwas gewagt?, fragte ich mich manchmal im Stillen – und schob den Gedanken gleich wieder weg.

Ich hörte auf zu unterrichten, wendete mich anderen Dingen zu. Das Zitat fiel mir erst wieder ein, als mir ungefähr genau vor einem Jahr eine Mitarbeiterin der neurochirurgischen Abteilung einer Zürcher Privatklinik aufs Band sprach. Ich solle doch zurückrufen, wegen des Operationstermins. Oh Robert, du kannst dir nicht vorstellen, wie beschissen es ist, einen Anruf aus der Neurochirurgie zu erhalten! Ich muss hier vielleicht gleich vorwegnehmen: Es war keine richtige Gehirnoperation mit Schädeldecke-Öffnen und so. Vielmehr liess ich mir eine Zyste in der Hypophyse entfernen. Die Hypophyse ist die Chefin unseres Hormonhaushalts. Sie koordiniert die Ausschüttung der Botenstoffe und liegt unterhalb des Grosshirns. Das Praktische an dieser minimalinvasiven Operation ist: Man muss den Körper nicht öffnen, sondern man benutzt eine Öffnung, die ohnehin schon vorhanden ist: Das Nasenloch.

Der innere Vertigo

Hirn oder Herz: Das sind wohl die zwei Organe im Körper, an denen man am wenigsten gern an sich rumschnippeln lässt. Weil sie sinnbildlich für das Leben stehen. Natürlich wäre eine OP am Knie oder in der Leistengegend auch kein Spaziergang gewesen. Aber angesichts des bevorstehenden Eingriffs nahm ein innerer Vertigo von mir Besitz: Ich kenne das gut, es fühlt sich an wie ein Loch im Innern, in das ich zu fallen drohe. Oh Robert, I can tell you: I was scared to hell. Ich hatte mich selber für diesen Eingriff entschieden, um endlich frei von Medikamenten leben zu können. Die Medikamente vertrug ich jedoch hervorragend – was also, wenn es mir nach der OP schlechter ging als vorher? Die Begriffe «Sterblichkeitsrate und Entfernung Prolaktinom» googelte ich erst am Vorabend des Eingriffs vom Spitalbett aus – so viel zu meinem Panikmodus.


Im Vorzimmer des Grosshirns

Die Hypophyse ist nur haselnussgross, die Platzverhältnisse im Vorzimmer des Grosshirns sind also bescheiden und in der Nachbarschaft verläuft der Sehnerv: Kein guter Ort für Raumforderungen. Es sprengt mein Hirn, wenn ich mir diese hochtechnisierte Millimeterarbeit vorzustellen versuche, die nötig war, um das Material da rauszuschaben. Ich meine: H-A-S-E-L-N-U-S-S-G-R-O-S-S! Es ist mir ehrlich gesagt immer noch ein Rätsel, wie er es gemacht hat. Der spröde, ältere Mann mit Hornbrille und weissem Kittel, erfahrener Facharzt für Neurochirurgie, der mir von mehreren Seiten empfohlen wurde. Ein Mann ohne Selbstzweifel, der in seinem Job immer gleich von Anfang an alles richtig macht. «Inshalla!», schickte ich als Stossgebet Richtung Himmel.  

Die OP verlief absolut komplikationslos, ich hatte überhaupt keine Schmerzen und auch meiner Nase war nichts anzumerken. Seither hat sich bestätigt, was ich im Grunde ohnehin schon wusste: Der Vergleich zwischen einer Gehirnoperation und dem Schreibprozess hinkt gewaltig, weil es zwei ganz unterschiedliche Arten von Tätigkeiten sind. Schreiben als ergebnisoffenen schöpferischen Prozess auf der einen Seite, ein hochtechnisiertes Verfahren auf der anderen Seite, bei dem jeder einzelne Schritt bis ins Detail definiert ist und es Richtlinien gibt für alle Eventualitäten.  

Bereits am ersten postoperativen Tag konnte ich wieder aufsitzen und selber aufs Klo gehen. Noch einen Tag später erhielt ich bereits die ersten Besuche – unter anderem schaute mein Chirurg vorbei, seine Studierenden im Schlepptau, die einen Kreis um mein Bett bildeten. Ich genoss es, im Mittelpunkt zu stehen und als medizinisches Anschauungsbeispiel zu dienen. Von den zehn Studierenden der Humanmedizin waren genau neun weiblich. An diesem Tag lernte ich: Die Zukunft ist weiblich, auch die Zukunft der Medizin. Die andere Sache, die ich lernte: Spröde ältere weisse Männer bekommen im Beisein ihrer Studierenden eine äusserst sympathische Ausstrahlung. Sowieso: Es lebe der alte weisse Mann!  Schliesslich hat einer von ihnen mich von meinem gutartigen Tumörchen befreit, das fast zwanzig Jahre lang in meiner Hypophyse gewohnt hat.

Lebwohl, Frau Prolaktinoma! Suchen Sie sich ein anderes Haus.