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Den Blick über den Kivusee

Ich krieg n‘ Kind!
Wie total anders das klingt als: Ich bekomme ein Baby. Ein Bébé. Einen Säugling.
Doch egal mit wie viel Löwenmut oder Ehrfurcht man diesem Wunder im eigenen Leben entgegentritt: Das Resultat bleibt das gleiche. Zumindest beruflich manövriert sich die Frau, sobald sie schwanger wird, für Jahre ins berufliche Abseits.

«Du kannst dann ja schreiben, wenn das Kind schläft», raten mir Leute, die wohl ganz offensichtlich die Realität verkennen. Wie soll ich an Schreiben überhaupt nur denken, wenn mir die Babykotze in den Haaren klebt, sich die Schmutzwäsche türmt und alles irgendwie nach Scheisse müffelt? In der kurzen Zeitspanne, in der das Kind schläft, komme ich nicht mal dazu, in Ruhe eine Dusche zu nehmen, geschweige denn meine Haare zu waschen! Ich habe von Frauen (und Männern) gehört, die es als den grössten Luxus erachten, auf dem Klo ein paar Minuten nur für sich zu haben. Bestimmt wissen viele Leute, wie viel Pflege, Zeit, Geduld und Aufmerksamkeit so ein Kind einem abverlangt. Aber ganz offensichtlich wissen viele Menschen nicht, wie viel RUHE und RAUM das Schreiben erfordert. Mit vollem Terminkalender lässt sich verdammt schlecht schreiben und genauso wenig mit etwas, das einem ständige Aufmerksamkeit abverlangt. Jedenfalls ist das bei mir so und ich rate meinen Schreibschülern immer wieder, sich selbst darin unbedingt ernst zu nehmen.

Deine eigenen Bedürfnisse sowie deinen Anspruch darauf werden auf einen Schlag getilgt, sobald du so einen neu geborenen Menschen in den Armen hältst und ich finde das auch nicht in einem New Age-überwinde-dein-Ego-Sinn befreiend, sondern einfach nur scheisse. Es hat mich sehr viel Energie gekostet, zu erkennen, dass auch meine Bedürfnisse einen Wert haben. In meiner Familie verkörperten wie in vielen anderen Familien die Frauen den Altruismus und ich habe einen langen Weg zurückgelegt, bis mir aufging, dass auch Frauen egoistisch und Männer aufopferungsvoll und gütig sein können. Will ich etwas aufgeben, was ich mir mit Zähnen und Klauen erkämpft habe? Und zweitens: Will ich wirklich ein Leben, in dem sogar die grundlegendsten Dinge wie Körperpflege zu Luxusgütern werden? Natürlich ist es schön, eine Familie zu sein. Natürlich ist es horizonterweiternd, mit dem Nachwuchs den eigenen Spiegel vorgesetzt zu bekommen. Natürlich. Natürlich!

Und trotzdem: Ich krieg lieber kein Kind. Werde ich also eine jener Frauen, die aus Langweile ein Yoga-Retreat auf Fidschi buchen, jeden Tag einen warmen Kurkuma-Latte mit Mandelmilch trinken und zu viel Geld für teure bio-ledergegerbte Handtaschen ausgeben? Wohl kaum.

Auch wenn das in unserer Konsumwelt oft sehr scheinheilig klingt, möchte ich es trotzdem nicht ungesagt lassen: Ich glaube an das einfache Leben. Und einfach, das heisst in meinem Fall: mein Laptop, eine Tasse dampfenden Tee und den Blick über den Kivusee.

Papa Römerin und das Sonnenblumenfeld

Sonnenblumen sind Sommerfreuden. Und so staunte ich nicht schlecht, als ich diese Woche bei den Eltern der Römerin war, um etwas abzuholen. Vor dem Wohnzimmerfenster von Papa und Mama Römerin breitete sich nämlich frontal ein riesiges Sonnenblumenfeld aus wie ein verheissungsvoller Teppich. Ein Sonnenblumenfeld vor das Haus gepflanzt zu bekommen, das ist wie ein Sechser im Lotto, schliesslich kann man sich einen ganzen Sommer lang daran erfreuen. Dieses Gelb, das so frisch aussieht, wie sich ein leichter Sommerregen auf einer Vespa anfühlt – oder so grell, dass es blendet, wenn die Sonne im Zenit steht, wie mich Papa Römerin aufklärte. Zum Glück muss ich nie eine Sonnenbrille aufsetzen, wenn ich an einem sonnigen Tag nach dem Mittagessen Zeitung lesen will, und von unerwünschten Flug- und Kriechtieren mit haarigen Beinen werde ich auch verschont, wer weiss, vielleicht würden die Mücken oder Käfer auch böse Viren übertragen, während ich nichtsahnend auf meinem Liegestuhl fläze, ja und mein süsser Kater Merlin – wie leicht könnte er sich in so einem Sonnenblumenfeld verhaken, verhungern oder verdursten, ja und ausserdem: Wer weiss, wie viel Strahlkraft dieses Sonnenblumengelb tatsächlich hat, vielleicht reicht es bis ins Universum, Ausserirdische fangen das Signal ein und eines Nachts landen sie auf meinem Sonnenblumenfeld und nehmen mich gefangen und entführen mich in die Alpha Centauri-Galaxie oder brandmarken mich und ich erlebe die Evolution rückwärts, Tag für Tag, bis ich mich irgendwann in einen Käfer mit haarigen Beinen verwandle wie Gregor Samsa, ja und was für eine Katastrophe, wenn die Sonnenblumen verblühen, dann hätte ich ein Meer von brandschwarzen, toten Sonnenblumen, die den Kopf hängen lassen, vor meinem Fenster, die mich an Zerfall, Tod und Verwesung erinnern, ja ein unmissverständliches Zeichen für den nahenden Winter, ja viel schlimmer noch als Blätter, die vom Baum fallen, und dann, am schwärzesten Tag von allen, fährt der Mähdrescher auf und das Sonnenblumenfeld wird abrasiert und verwandelt sich in eine dunkle Einöde, die sich wie ein Wundmal in die Landschaft und in mein Herz bohrt. Uff, bin ich froh, dass ich kein Sonnenblumenfeld vor dem Wohnzimmerfenster habe.

Der rosarote Ponyfurz

Es war der dreissigste Geburtstag einer meiner Freunde, der mit einem Knall die Zeitenwende einläutete. Zum Spass hatte jemand Rauchkugeln mitgenommen, die im Verlauf des Abends gezündet wurden. Einer war knallrosa, und jemand rief aus: «Das sieht ja aus wie ein rosaroter Ponyfurz!» Wir lachten uns halb kaputt über diese Bemerkung. Doch seither ist der rosarote Ponyfurz in unser Leben eingekehrt. Er symbolisiert das in Watte gepackte Kleinfamilienparadies, in das sich jetzt immer mehr meiner Freunde begeben. Es kommen die Kinder, und alles verändert sich. Plötzlich flattern Bruncheinladungen ins Haus. Beginn sonntags um elf Uhr. «An einem Sonntag um elf schlafe ich noch!», empören wir Kinderlosen uns. Und noch vor wenigen Jahren – wenn nicht Monaten – hätten sie es noch genauso gemacht. Aus Schlafmützen sind liebevolle und engagierte Mütter und Väter geworden. Ich nehme an, ich werde mich daran gewöhnen müssen. Vielleicht ist es ja sogar schön. Ich möchte dieses neue Abenteuer auch unbedingt mit meinen Freunden teilen, was mich allerdings nicht davon abhalten wird, auch in Zukunft sonntags auszuschlafen. Und so ertappe ich mich dabei, wie ich mich im Stillen freue, wenn Lockenkopf am Frauenabend ins Lokal stürmt und ausruft: «Die Kleine ist so etwas von anstrengend im Moment. Wo ist der Alkohol?»

Vater werden wäre schön

«Ich würde gerne Vater werden!», sagte eine Freundin neulich aus heiterem Himmel. Vater? Weil die Karriereziele der Väter auch heute noch selten von einem Kinderwunsch durchkreuzt werden. Männer müssen sich nicht zwischen Kind und Karriere entscheiden, sondern machen frischfröhlich einfach beides. Frischfröhlich ist auch die Geschichte eines Jungvaters, die mir neulich zugetragen wurde: Spontan sei er von seinem Bruder auf eine Auto-Spritztour eingeladen worden. «Nimm die Kleine doch mit, ich hole euch ab», schlug dieser vor. Gute Idee, dachte sich der Jungvater, nahm seine kleine Tochter auf den Arm und stieg an Bord. Irgendwann stellte sich heraus, dass er die Trinkflasche für das Kind vergessen hatte. Und erst als das Töchterchen «Papi, Gaggi», brabbelte, fiel ihm siedend heiss ein, dass er ja auch keine Windeln eingepackt hatte. Notfallmässig hielten sie bei einem Laden, um Windeln zu kaufen. Verantwortung übernehmen, das habe er zuerst lernen müssen. Dass sich Angelina Jolie hat die Brüste amputieren lassen, weil ihre Kinder sie nicht an Brustkrebs verlieren sollen, berührt mich zwar einerseits tief. Und trotzdem ist mir nicht ganz wohl dabei. Weil es den Mythos der aufopferungsvollen Mutter noch mehr hochstilisiert. Wenn ein Vater die Windeln einzupacken vergisst, finden wir es lustig. Wenn es einer Mutter passiert, gilt sie als wirr. Ja, Vater zu werden wäre schön.

Erschienen im «Winterthurer Stadtanzeiger», 04.06.2013

Die sieben Zentimeter

Das mit dem Frausein ist so eine Sache. Auf unserem Weg zur vollkommenen Sinnlichkeit werden uns immer wieder Fallen gestellt. Die sieben Zentimeter beispielsweise. Ab sieben Zentimeter sind High Heels nämlich offiziell High Heels. In Stöckelschuhen fühlen sich Frauen selbstbewusst und weiblich. Weil Frauen auf hohen Schuhen durch die Landschaft schaukeln, jedem Kanaldeckel ausweichen und dabei immer noch souverän lächeln sollten, sind sie manchmal ganz froh, ab und an einen Mann an ihrer Seite zu wissen, an dessen Arm sie sich ein wenig unterhaken können. High Heels scheinen nie eine falsche Wahl zu sein, auch nicht auf einer schneebedeckten Strasse in einem Schweizer Wintersportort. Die Szene, dessen Zeuginnen wir Amazonen in jener Neujahrsnacht werden: Zwei Liebespaare stehen am Strassenrand und warten auf ein Taxi, die Damen sind zurechtgemacht und tragen doch tatsächlich…High Heels. Wir schauen uns ungläubig an, so viel Dummheit macht sogar uns sprachlos. «Diese Frauen können heute Abend tatsächlich keinen einzigen Schritt alleine tun», sage ich in das Schweigen hinein. Die Römerin antwortet: «Was denkst du denn, die haben VIP-Eintritte in einen angesagten Club. Die müssen heute gar nicht mehr auf die Strasse.» Nicht so wie wir, die in Silversternächten meistens noch bis kurz vor zwölf um die Häuser ziehen ohne zu wissen, in welche Säuferbar es uns dieses Mal verschlagen wird.

Wir stapfen also weiter durch den Schnee und finden tatsächlich noch ein warmes Plätzchen für den Moment des Champagnerknallens. Als die Uhr Mitternacht anzeigt, fallen wir uns stürmisch um den Hals, uns von ganzem Herzen alles Gute wünschend. Danach ist mir etwas feierlich zumute. Und anstatt meiner Weiblichkeit mit sieben Zentimeter hohen Absätzen Ausdruck zu verleihen, beschliesse ich, mir fünf süsse Zentimeter der etwas anderen Art zu gönnen. «Ich lasse mir jetzt am Automaten einen Taschenvibrator raus», verkünde ich meinen Freundinnen in feierlichem Tonfall und rutsche von meinem Barhocker. Auf ein vibrierendes neues Jahr!

Als ich den Automaten im Untergeschoss anpeile, stehen da bereits zwei Frauen, die sich angeregt unterhalten. Ich denke bereits daran, meine Mission auf später zu verschieben, weil ich mich ein klitzekleines bisschen geniere. Doch dann beschliesse ich, zu meinem Bedürfnis zu stehen und fasse mir ein Herz. ICH KAUFE MIR HEUTE NACHT EINEN VIBRATOR, wiederhole ich innerlich mein Mantra, füttere den Automaten mit zwei Fünfliberstücken, als ich feststellen muss, dass dieser Automat kein Rückgeld gibt. Anstatt acht Franken zahle ich deren zehn. Aber was soll’s, schliesslich ist heute Silvester und vielleicht ist meine Neuanschaffung ja eine echte Investition. Mit grösster Sorgfalt wähle ich die richtige Taste, schliesslich will ich kein Kondom, nein, ich will einen TOY BOY. Die zwei Frauen, die sich nun über meinen Kopf hinweg unterhalten müssen, nehmen keine Notiz von mir. Ohne Unterlass plappern sie weiter. Und gerade, als ich das Päckchen aus dem Fach nehmen und verduften will, kommt eine junge Frau die Treppe herunter und verkündet lautstark: «Dä muess huere geil si, mini Fründin hät dä glich!» Es war einer meiner aufregenderen Silvesternächte.

Die Inflation des Josef

Von schönen Geschichten können wir doch alle nicht genug kriegen. Deshalb kehrt die Geschichte aller Geschichten auch alle Jahre wieder: Die Weihnachtsgeschichte. Sie hat sich in unser kollektives Gedächtnis eingegraben, sie «gehört» uns allen. Am Heiligen Abend wird sie vielleicht vorgelesen unter dem glitzernden Christbaum, doch viel wichtiger für unseren Weihnachts-Wissensschatz war wohl einst die schulische Sozialisation. Gehörte nicht jede und jeder von uns als Kind einem Krippenspiel-Ensemble an, sei es im Kindergarten oder in der Primarschule? Grundsätzlich gibt es in jedem Kindertheater zwei Arten von Kindern: Diejenigen mit Sprechrolle und diejenigen ohne, die Statisten. Ruhmreiche Sprechrollen in der Weihnachtsgeschichte sind zum Beispiel der Engel Gabriel oder die Heiligen Drei Könige aus dem Morgenland. Statistenrollen haben die Soldaten und die Hirten auf dem Feld, ausserdem die Tannen am Wegrand (mit Armbewegungen, die Sturm symbolisieren). Schon im zarten Vorschulalter werden wir also schubladisiert in scheu oder redselig, mutig oder feige, begabt oder tapsig, beliebt oder unbeliebt. Die Frage «Und was warst Du im Krippenspiel?» ist also nicht einfach irgendeine Frage, denn die Antwort gibt uns gleichzeitig Aufschluss darüber, welche Art von Kind der andere einst war. Das ist zwar grausam, in gewissen Situationen aber auch ganz praktisch. Ich könnte beispielsweise zu meinen Freundinnen sagen: «Der Typ hat wahrscheinlich als Kind eine Tanne gespielt» und sie wüssten genau, welche Art von Mensch ich meine. «Er ist ein totaler Langweiler» meint exakt das gleiche und klingt dabei ungleich gemeiner. Bei einer nicht repräsentativen Umfrage betreffend Krippenspiel bin ich vor allem beim Thema Maria und Josef auf Erstaunliches gestossen. Maria und Josef sind die eigentlichen Stars vom Krippenspiel, wenn man einmal vom Jesuskind absieht, das ja oftmals sowieso nur eine Puppe ist. Maria und Josef müssen am meisten Text auswendig lernen und treten erst noch über mehrere Szenen hinweg in Erscheinung. Männer, die angaben, als Jungs den Josef gespielt zu haben, traf ich überdurchschnittlich häufig, einige wollten ihn sogar «mehrmals» gespielt haben. Doch wo bleiben die Marias dieser Welt? Keine einzige habe ich angetroffen! Rechnerisch gesehen muss es jedoch genauso viele Mariadarstellerinnen wie Josefdarsteller geben, und es kann proportional auch nicht mehr Josefs geben als Engel oder Hirten. Ist das also Auswuchs klassischer männlicher Selbstüberschätzung? Nein. Vielmehr glaube ich, die Männer haben längst durchschaut, dass es ihrem Ruf schadet, wenn sie ehrlicherweise sagen, dass sie als Kind ein ruhmreicher Tannendarsteller waren. Deshalb flunkern sie und behaupten, dass sie den Josef gegeben hätten, weil der Josef ja die männliche Hauptrolle ist und somit prestigeträchtig. Doch ich erlaube mir hier, diesen groben Denkfehler zu entlarven: Wenn man ein bisschen weiterdenkt, wird schnell klar, dass dem Josef in der Weihnachtsgeschichte überhaupt keine Bedeutung beigemessen wird. Der Josef in der Weihnachtsgeschichte ist so etwas wie der Blinddarm in unserem Organismus: Es braucht ihn gar nicht. Eigentlich weiss niemand so genau, warum er eigentlich existiert. Der Vater von Jesus ist er jedenfalls definitiv nicht. Also, liebe Männer: Wenn schon lügen, dann wenigstens gekonnt. Vergesst den Josef. Sagt in Zukunft lieber, ihr seid eine der Heiligen drei Könige gewesen. Die verschenken grossmütig ihre Schätze, kennen sich mit Sternen aus und haben erst noch diesen Hauch von Exotik. Das sind Qualitäten, die heute gefragt sind.

  1. Dez. 2006, erschienen im Landboten