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Das Bücherschiff

(In: «Dreiundsechzig», Kameru Verlag)


Andrea setzte den Stift an und schrieb: «Rotmantelfrau sucht Lederjackenmann.» Sie legte den Kopf schief und schaute durch das Fenster des Café Cairo auf die winterliche Berner Altstadt hinaus. Die eng ineinander verschachtelten Häuser gefielen ihr. Wie sehr liebte sie diese Stadt! Leise sprach sie die Worte vor sich hin: «Rotmantelfrau sucht Lederjackenmann.» Sie schaute auf die Uhr. Ihre Mittagspause war fast vorüber, sie musste aufs Bücherschiff zurück. Sie schlüpfte in den roten Mantel, ihre Absätze klapperten auf dem Kopfsteinpflaster, als sie die schmale Gasse zur Anlegestelle hinuntereilte. Die alte Barke lag ruhig auf der winterlichen Aare. Sie liebte diesen eigenartigen Geruch, wenn sie den Bauch des Schiffes betrat; eine Mischung aus Staub, Motorenöl, Lack, Leim und Papier. Das Schiff war Teil eines Leseförderprojekts der Berner Bibliotheken. Jeden Mittwochnachmittag hatte Andrea Primarschüler zu Gast; kleine Piratinnen und Piraten, die mit Augenbinden und Schnurrbärten durch die Gänge stürmten und später beim Vorlesen mucksmäuschenstill an ihren Lippen hingen.

Als sie daheim die Haustür öffnete, kam ihr laute Musik entgegen. Lisa, ihre Mitbewohnerin, kochte gerade und hörte dabei laut Musik. «Möchtest du auch mitessen?», rief sie Andrea aus der Küche zu. Während des Essens kamen sie auf Andreas Lederjacken-Projekt zu sprechen. 
«Lass mich hören, was du bis jetzt geschrieben hast», drängte Lisa. Andrea wollte vor ihrer Mitbewohnerin nicht als Mauerblümchen dastehen. Doch Lisa gab keine Ruhe, bis Andrea die Notiz herausrückte. Ein Lächeln umspielte Lisas Lippen, als sie las: Rotmantelfrau sucht Lederjackenmann. Verträumte, eigenwillige Rotmantelfrau sucht liebevollen, verrückten Lederjackenmann zum Pferdestehlen! Lisa schaute Andrea zweifelnd an. 
«Also erstens zieht man mit einem Feministinnenmantel keine Männer an. Und zweitens: Was heisst hier Lederjacke. Es gibt so viele verschiedene, schwarze, braune oder dunkelgraue, das ist ein riesiges Spektrum. Rocker tragen Lederjacken, Punks, Goths, Metaller … Willst du etwa einen Metaller als Freund?»
Andrea zog eine zerknirschte Grimasse. Daran hatte sie wirklich nicht gedacht.
«Du mit deiner altersschwachen Arche. Komm lieber am Freitag mit mir zu dieser Party ins Metro.» Nachdem Lisa in ihrem Zimmer verschwunden war, spülte Andrea das Geschirr. Es war schwierig zu erklären, aber in einem knallroten Mantel fühlte sie sich lebensvoll und witzig, stark und selbstbewusst. Lisa behauptete, Männer fühlten sich von einer allzu selbstbewussten Frau bedroht. Aber für Andrea war der rote Mantel eine Art Zaubermantel, der all die schlechten Energien von ihr fern hielt.

«Ich suche einen Assistenten, der mir hilft, die Bücher, die zurückgekommen sind, wieder in die Regale zu räumen», erklärte sie dem jungen Mann, der ihr am nächsten Tag im Bücherschiff gegenüber sass. Er war ihr vom Arbeitsamt empfohlen worden. «Trauen Sie sich das zu?» Der junge Mann mit dem gelockten Haar nickte. Er trug eine Wolljacke und machte einen sehr zurückhaltenden Eindruck.Andrea entschied, Momo einzustellen. Ein Energiebündel hätte sie auf dem Bücherschiff nicht brauchen können. Dass Momo eine gute Wahl gewesen war, zeigte sich bereits am Nachmittag. Er begriff rasch und verrichtete in Ruhe seine Arbeit. «Woher aus Ägypten kommen Sie eigentlich, Momo?», fragte Andrea.«Aus Luxor. Das Haus meiner Eltern liegt direkt am Nil.»
Darüber hätte Andrea gern mehr erfahren. «Kommen Sie auch noch rasch ins Café Cairo?», fragte sie, als sie gegen halb sieben das Bücherschiff zusperrten. Doch Momo schüttelte den Kopf. «Ich muss noch beim Arbeitsamt vorbei», erklärte er kurz angebunden. Sie schaute ihm nach, wie er davonging. «So ein schüchterner Typ», dachte sie.
In dieser Nacht fand sie kaum Schlaf. Als sie dann endlich in einen unruhigen Schlummer fiel, träumte sie von einer hölzernen Feluke und von Dorfbewohnern, die am Fluss ihre Kleider wuschen.Am nächsten Tag war sie früher im Bücherschiff als sonst. Momo kam erst später und sie wollte die ruhigen Morgenstunden nutzen, um in Ruhe nachzudenken. In der Nacht war ihr eine Idee gekommen. Als Momo gegen zehn eintraf, fragte sie ihn: «Wie wär‘s, wenn Sie mir bei einem Recherche-Kurs für Jugendliche helfen würden? Sie sind der Experte und die Jugendlichen müssen Ihnen Fragen über das Leben in Ägypten stellen.»
«Das würde ich sehr gern machen.»
«Perfekt! Ich freue mich.» Spontan gab Andrea ihm die Hand. Zum ersten Mal fiel ihr sein angenehm fester Händedruck auf. «Nennen Sie mich doch Andrea», schlug sie vor. «Wir müssten noch die Einzelheiten besprechen», fuhr sie fort. Momo zögerte einen Moment, dann sagte er: «Darf ich dich heute Mittag zu einem kleinen Lunch einladen? Ich koche etwas Ägyptisches.» Andrea wusste nicht, ob das professionell war, aber ihre Neugierde war stärker und sie sagte zu. Sie räumte auf und rückte ein paar Stühle zurecht, dann machte sie sich auf den Weg, den Momo ihr beschrieben hatte. Sie klingelte an der Haustür, es summte und die Tür gab nach. Die Wohnungstür im dritten Stock war nur angelehnt. Sie klopfte kurz und trat ein. Der Geruch von Essen stieg ihr in die Nase. Doch da war noch etwas anderes. Es war ein fremder und doch so bekannter Geruch, sie erkannte ihn nicht gleich. Dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Es war der Geruch von Leder. An der Garderobe hing eine Lederjacke.

Geräucherte Rentierherzen

(In: «Der Sklave der Wikingerin», Vidal Verlag)

Schnee erhellt die Landschaft, in der stillen Ödnis des klirrend kalten Wintermorgens lässt sich schemenhaft eine Reihe verschneiter Nordmannstannen erkennen. Kahle Äste ragen in den Himmel, um die Wipfel kreisen Raben und krächzen. Hendrik steht am Strassenrand, den Kragen seiner dicken Daunenjacke hochgezogen bis zum Kinn. Er hat Glück. Schon nach wenigen Minuten hält ein Auto. Mit klammen Fingern öffnet er die Beifahrertür und späht ins Innere des rostroten Gebrauchtwagens.

«Hallo», begrüsst er die Lenkerin, «dürfte ich mitfahren? Ich muss in die Stadt.» «Na klar, hüpf rein, ist ja auch eine Schweinekälte da draussen», erklingt eine weibliche Stimme aus dem Innenraum. Hendrik lässt sich auf den Beifahrersitz gleiten, behutsam zieht er die Beifahrertür zu, verstaut seine geröteten Finger sofort im Jackenärmel.
«Hast wohl deine Handschuhe zu Hause vergessen?», bemerkt die Fremde. Hendrik hebt den Kopf und schaut in ein offenes Gesicht. Am Hinterkopf werden die dunklen Haare von einem goldgelben Tuch zusammengehalten. Ihre blasse Haut mit den Sommersprossen und die wässrig-blauen Augen sehen sehr nordisch aus. Er schätzt sie auf Mitte dreissig.
«Mmm-mm», sagt er unbestimmt, reibt die Handflächen aneinander. Die Fahrerin dreht den Schalter der Heizung voll auf, Hendrik spürt, wie die Wärme in seine Glieder zurückkehrt.
«Möchtest du eine Tasse Kaffee?» Die Autofahrerin deutet mit dem Kinn zu einer grossen Thermosflasche, die zwischen den beiden Sitzen thront. Sie trägt wollene Pulswärmer an den Handgelenken. «Im Handschuhfach gibt es Tassen. Du kannst mir auch gleich eine eingiessen.»
Hendrik schaut sie überrascht an, beugt sich dann vor, öffnet umständlich das Fach, wo mehrere Keramiktassen sauber geputzt auf ihre Verwendung warten. Er nimmt eine grüne Tasse mit einem Smiley heraus, führt sie unter die Kanne, drückt darauf, ein Strahl schwarze Flüssigkeit schiesst heraus. Dankbar nimmt die Frau die dampfende Tasse entgegen, nimmt den ersten Schluck.
«Das weckt meine Lebensgeister. Nimm dir auch einen.»
«Danke, ich trinke lieber Tee.» Er dreht den Kopf zum Fenster, draussen gleitet der Wald vorbei.
«Wohnst du hier in der Nähe?», bricht die Fremde die Stille.
Hendrik wendet sich ihr nur halb zu, als er sagt: «Hundert Meter von dem Ort, wo du mich mitgenommen hast.»
«U-u-u, das ist aber ganz schön abgelegen.»
Hendrik zuckt die Schultern.
«Lässt du dich jeden Tag von jemandem mitnehmen?»
Hendrik schaut aus dem Fenster.
«Nur wenn ich den Bus verpasse.» Nach einer kleinen Pause fügt er hinzu: «Zum Leidwesen meines Bosses passiert das in letzter Zeit fast jeden Tag.»
«Ich wette, nicht alle Norweger sind solche Plappermäuler wie ich.»
Er deutet ein Lächeln an. «Die meisten sind recht schweigsam.»

Draussen wird es heller, in der Ferne schimmern die ersten Lichter der Stadt. «Ich würde den Bus auch dauernd verpassen. Deshalb habe ich ein eigenes Auto, auch wenn es nur eine Schrottkarre ist.» Sie tätschelt auf das Lenkrad ihres Golfs. «Wenn ich nur zwei Minuten zu spät komme, gehen meine Schüler wieder nach Hause. Da kennen sie kein Pardon.»
Erst jetzt fällt Hendrik auf, dass sich auf der Rückbank Hefte stapeln.
«Sie sind sicher eine gute Lehrerin», entfährt es ihm.
Sie lächelt. «Vor allem, wenn ich vergesse, Tests zu machen, weil ich so chaotisch bin. Das mögen meine Schüler ganz besonders an mir.» Sie schaut ihn an, bricht in Gelächter aus. «Ich heisse übrigens Jorun.» Sie schaut ihn auffordernd an, dann heftet sie ihren Blick wieder auf die Strasse.
«Und dein Name?»
«Oh, entschuldige, ich heisse Hendrik.»
«Hendrik, magst du Musik?» Er nickt. «Ich bin Bassistin in einer Viking Metal-Band. Am Samstag ist unsere CD-Taufe in der alten Scheune.» Am ersten Rotlicht am Stadtrand bringt sie das Auto zum Stehen, greift nach hinten in ihre Tasche und drückt ihm einen Flyer in die Hand.
«Die Tochter der Wikinger», liest Hendrik. «Ein eigenartiger Bandname.»
«Und wie. Und ich garantiere dir: Genauso eigenartig ist unsere Musik.»
Er deutet auf eine Werkstatt, in der ein schwaches Licht brennt.
«Du kannst mich gleich dort vorne absetzen.»
«Ich habe mir schon gedacht, dass du etwas mit den Händen arbeitest. Schreiner?»
«Metallbauschlosser», erwidert Hendrik und starrt nach unten.
«Dann musst du erst recht kommen», lacht Jorun auf. Verdutzt schaut er auf.
«Na ja, Viking Metal, Metallbauschlosser … das passt doch.»
«Der Beruf ist nicht gerade meine Passion. Aber mal sehen. Auf jeden Fall vielen Dank fürs Mitnehmen.»
«Keine Ursache.» Er öffnet die Autotür.
«Du kannst auch spontan entscheiden wegen Samstag», sagt sie und kurz, bevor sich die Tür schliesst, hört er sie noch sagen: «Ich lasse dich auf die Gästeliste setzen.»

Vor der alten Scheune brennen Fackeln. Hendrik ist froh, dass nur eine Handvoll Leute beim Eingang steht.
«Hi. Mein Name ist Hendrik. Ich bin auf der Gästeliste», sagt er leise.
Der freundliche Mann überfliegt das Papier, das er vor sich liegen hat.
«Ach ja, hier. Gefunden. Du bist ein Freund der Wikingerin. Sie ist noch mit Magnus an der Bar. Geh doch rüber, sie freut sich sicher.» Er wedelt mit der Hand in die Richtung, aus der die Musik kommt. Hendrik bedankt sich und tritt in die wohltuende Dunkelheit. Er erkennt Jorun nicht gleich auf Anhieb, sie trägt ein Tank Top aus Leder und einen Rock, dazu Fellstiefel, quer über die obere Hälfte der Wange hat sie sich zwei dunkle Streifen gemalt. Sie und Magnus sitzen sich sehr nah. Hendrik will kehrtmachen, doch Jorun hat ihn schon gesehen.
«Hey, Hendrik, du bist also doch gekommen!» Sie umschlingt ihn mit ihren nackten Armen, Hendrik errötet.
«Darf ich dir Magnus vorstellen, der Sänger der Band und mein Freund.» Magnus drückt Hendrik an seinen verstaubten Fellumhang, sodass Hendrik husten muss. «Oh, entschuldige», sagt der Waldschrat, seine warmen braunen Augen strahlen Gutmütigkeit aus. «Ich wollte dich nicht ersticken.» Beide müssen lachen.
«Bist du noch rechtzeitig gekommen?», fragt Jorun. «Ich habe ihn am Mittwoch nach Narvik mitgenommen», erklärt sie, an Magnus gewandt.
«Ja, ging alles gut, danke nochmal. Und vielen Dank für die Einladung.»
«Hendriks Chef ist ein bisschen schwierig», informiert Jorun.
«Na ja, eigentlich ist mehr der Beruf das Problem und nicht der Chef. Das Material, mit dem ich arbeite, ist hart, es fühlt sich tot an unter meinen Händen.
«Arbeite doch mit Holz», schlägt Magnus vor.
«Magnus hat seine Küche selbst gezimmert.» Jorun schaut zu ihm auf und berührt mit der Hand seine Schulter. «Die sieht total schön aus. Und das Beste ist, dass er jeden Sonntag in seinem selbst gebauten Ofen Rentierherzen für mich räuchert.»
Magnus zuckt schuldbewusst die Schultern und sagt zu Magnus:
«Tja, ich bin ihr eben verfallen. Man nennt mich auch der Sklave der Wikingerin.»
«Eins, zwei, drei», klingt es von der Bühne herüber.
«Soundcheck», sagt Jorun. «Wir müssen.» Die beiden wenden sich zum Gehen.
Hendrik schaut ihnen nach, in ihren auffälligen Kostümen, wie sie sich an den Händen halten und Richtung Bühne tänzeln, leicht und unbeschwert, und trotzdem irgendwie angekommen im Leben.
«Geräucherte Rentierherzen», murmelt Hendrik, schüttelt den Kopf und lächelt leise in sich hinein.

Erschienen in: Der Sklave der Wikingerin. Kurzgeschichten aus der Schweiz. Fatima Vidal (Hrsg.), 2018

Lebensabschnittsmöbel

Gegenstände können auf vortreffliche Weise einen bestimmten Lebensabschnitt symbolisieren. Mit achtzehn ist es oftmals das erste eigene Auto: Es drückt die neu gewonnene Unabhängigkeit aus, es steht für Aufbruch. Das erste eigene Auto bedeutet: Ich ziehe los, um die Welt zu erkunden. Jeder neue Lebensabschnitt weckt in dieser Hinsicht wieder neue Begehrlichkeiten.
So träumen die Amazonen und ich von einer freistehenden Badewanne mit Löwenfüsschen. Das wär’s! Die Römerin gibt jedoch zu Bedenken, dass wir uns definitiv noch nicht in dieser Lebensphase befinden. Eine freistehende Badewanne mit Löwenfüsschen, das klingt nach grossen Wohnräumen mit hohen Decken und grossen Fenstern; es klingt ein bisschen nach Künstlerdasein, auch nach Yuppie-Style. Doch niemand von uns hat sich schon so weit emporgearbeitet, dass wir nur im Entferntesten an so ein mondänes Leben denken könnten.
Die Römerin zum Beispiel steckt momentan in der Lebensabschnittsphase «Bettsofa». Sie bewohnt ein Studio, und da sie oft künstlerisch tätig ist und den Boden benutzt, um zu arbeiten, würde ein Bett zu viel Platz versperren. Ein Bettsofa kann sie schnell aus-ziehen und am Morgen nach dem Aufstehen wieder wegräumen. Ein Bettsofa-Besitzer hat sich zwar noch nicht richtig im Leben eingerichtet, hat sich aber dafür entschieden, seinen Träumen Raum zu geben. Einen Schritt weiter ist Lockenkopf. Sie ist gerade mit ihrem Freund in eine Altbauwohnung gezogen – die Betonung liegt auf Altbau. Denn es gibt Stimmen, die beharrlich behaupten, ihre Wohnung sei gar keine Altbauwohnung. Lockenkopf hat sich wohl ein bisschen in die Vorstellung vernarrt, in einer coolen, alternativ angehauchten Altbauwohnung zu leben. Wohl deshalb hat sie sich bei nächster Gelegenheit bei der Verwaltung erkundigt, was denn eigentlich die typischen Merkmale für eine Altbauwohnung sind…
Immerhin wohnen wir alle noch zu Miete. Spätestens wenn wir anfangen, uns nach Landparzellen umzusehen, die wir bebauen können, sind wir definitiv im Begriff, in eine nächste Lebensphase überzutreten. Doch vorher kommt ja noch die Phase mit der freistehenden Badewanne und den Löwenfüsschen. Die möchte ich auf keinen Fall verpassen.

Schafft den Sonntag ab

«Für Singles ist der Sonntag einfach der beschissenste Tag der ganzen Woche!» Das kam so ehrlich und aufrichtig aus dem Mund von Kaktusblüte, dass mich sogleich das Bedürfnis überkam, mich demütig vor ihr niederzuknien und sie gleichzeitig stürmisch zu umarmen. Mit diesem Satz spricht sie mir und Millionen von anderen Singles rund um den Erdball aus tiefstem Herzen. Am Sonntag hat man sich als Single gefälligst selbst zu genügen, denn Sonntag ist Familientag. «Normale» Leute verbringen den Sonntag mit dem Partner und – falls vorhanden – den Kindern. Der Sonntag ist der Familienpicknick-Tag, der Connyland-Ausflugtag oder der Im-Bett-bleiben-lesen-und-vögeln-Tag. Es gibt nur wenig, was sich in der globalisierten Welt an traditionellen Werten halten konnte, der Sonntagsbratenschmaus mit anschliessendem Spaziergang hat den Sprung in die Moderne leider geschafft.
Ich möchte nicht wissen, wie viele Singles sich am Sonntag im Fitnesszentrum auf den Geräten abstrampeln, nur um gegen die Leere anzukämpfen, die sich in ihrem Innern breit macht, ihnen den Hals zuschnürt und ihnen das Herz schwer werden lässt. So ein leerer Sonntagnachmittag kann zentnerschwer auf einem liegen, so viel kann ich rübermorsen von meinem beziehungslosen Planeten. Am Tag der Gemeinschaft auf sich gestellt zu sein, steigert die gefühlte Einsamkeit – und, je nach vorüberziehendem Tiefdruckgebiet – auch die Verzweiflung.

Und was ist das Erste, was wir gutmütigen Single-Freundinnen intuitiv tun, wenn eine unserer Freundinnen verlassen wird? Wir sorgen für die Sonntagnachmittagsunterhaltung. Wir laden zum Kaffee, ins Kino oder ins Museum. Weil Liebeskummer und das Sonntagsgefühl sich schlecht vertragen. Schonen, schonen, schonen ist jetzt oberstes Gebot, die Freundin soll keinesfalls diesem klammen Gefühl ausgesetzt sein, das für uns zum Alltag gehört. Wenn wir ehrlich sind, geniessen wir die unerwartete sonntägliche Gemeinschaft. Obschon der Nachgeschmack etwas schal ist im Abgang. Denn wir wissen genau, dass wir nur die Lückenbüsser sind. Sollte sich das ganze Trennungsdesaster bei Lichte betrachtet doch nicht als ganz so tragisch erweisen, sitzen wir bereits nächsten Sonntag wieder ohne Begleitung im Café. Doch dieses Risiko gehen wir ein. Schliesslich haben wir nichts zu verlieren. Ausser einem weiteren dumpfen Sonntagnachmittag.

Der Killerblick

Neulich im improvisierten Fotostudio: Eine Freundin fotografiert mich für den Lebenslauf. Auf einem der Bilder habe ich meine Fransen nach hinten gesteckt, was so wirkt, als würde ich die Haube einer Ordensschwester tragen. «Mit diesem Foto könntest du dich glatt fürs Kloster bewerben!», sagt meine Freundin und wir lachen. Dann gibt es noch die Fotos mit Blazer, wo ich aussehe wie der Werbebroschüre einer Grossbank entsprungen. Eigentlich hätten wir das gerne weitergeführt – das ganze Spektrum von der Heiligen bis zur Hure. Auf Bewerbungsfotos soll man lächeln, aber ja nicht zu stark, weil das wieder unprofessionell wirkt. Brav und strebsam soll man aussehen. Und dabei auch noch sympathisch wirken. Mir schwirrt der Kopf. Hilfe, ich brauche Schauspielunterricht! Und beim Bewerbungsgespräch werden wir dann trotzdem wieder angehalten, authentisch zu sein. Ein Gedanke frustriert mich besonders: Lange Jahre habe ich damit zugebracht, herauszufinden, wer ich wirklich bin, nur um es in einem Bewerbungs-Kontext tunlichst wieder verschweigen zu müssen. Dabei sucht jedes Unternehmen Persönlichkeiten. Persönlichkeiten ganz ohne Ecken und Kanten, aalglatt und debil lächelnd wie auf dem Bewerbungsfoto. Ich bin keine Hure und keine Heilige, ich bin ein Mensch mit Einfühlungsvermögen, der den Anspruch hat, einen interessanten Job zu finden. Wie viele andere auch. Aber ein Ass im Ärmel habe ich noch: Auf einem der Nonnen-Fotos habe ich den absoluten Killer-Blick. Der jagt sogar mit Angst ein. Und den HR-Leuten hoffentlich auch.

Ein Recht auf Liebestöter

Bridget Jones, die liebenswürdig-tapsige Katastrophen-Frau, hat den Begriff salonfähig gemacht: Liebestöter. Ein Liebestöter ist eine überdimensional grosse Unterhose, unmöglich in Schnitt und Farbe, die unter mysteriösen Umständen in die eigene Wäschekollektion geraten ist und darin eigentlich überhaupt keine Existenzberechtigung hat. Sie fällt völlig aus dem Rahmen, tummelt sich hässlich und munter zwischen den Cadillacs ihrer Gattung. Die Eremitin hat dafür den schönen Begriff «Gammler» geprägt. Fast jede Frau hat irgendwo so einen Liebestöter herumliegen, wenn sie nur tief genug in der Kommode gräbt.
Peinlich wird es erst dann, wenn unsere Liebestöter Blicken ausgesetzt sind, für die sie nie bestimmt waren. Einmal geriet der Gammler einer Freundin in die Schmutzwäsche der Männer-WG ihres damaligen Freundes. Einen Vollwaschgang später sah sein Kumpel den Liebestöter in seiner ganzen Pracht an der Wäscheleine hängen und konnte sich einen abschätzigen Kommentar nicht verkneifen. Ihr Freund nahm das unappetitliche Textil seiner Freundin in Schutz, indem er sagte: «Das ist eben ihre Mens-Unterhose».
Unterhosen, die frau nur während ihrer Tage trägt? Woher er das wohl hatte? Die Amazonen waren sich für einmal alle einig: Auch wir wünschen uns einen Mann, der unsere Liebestöter vor seinen Kumpels in Schutz nimmt und sogar dann noch schmeichelnde Worte für uns findet, wenn wir in dieselben gehüllt vor ihm stehen. Denn Liebestöter sind vor allem eins: Der eindrückliche Beweis dafür, dass wir uns selbst nicht allzu wichtig nehmen. Bridget Jones würde mir beipflichten.

Die Tattoo-Brüderschaft

Neulich sitzen die Amazonen und ich in der Kneipe, als wir mit vier Männern um die Zwanzig ins Gespräch kommen. Eine ganz alltägliche Situation. Was in der Folge passiert, ist allerdings nicht mehr ganz so alltäglich. Wer hätte gedacht, dass auf unsere harmlose Frage, «Seid ihr gute Freunde?», eine dermassen eindrückliche und in der Tat «handfeste» Antwort folgen würde. Wir staunen nämlich nicht schlecht, als die jungen Männer wie auf Kommando den Gürtel ihrer Jeans lockern, Knopf und Reissverschluss öffnen, sich umdrehen und uns ihre nackten Pos auf dem Präsentierteller entgegenstrecken.
Einen Moment lang sind wir sprachlos, was im Kreise der Amazonen wirklich nur in Ausnahmefällen vorkommt. Bis wir entdecken, dass auf allen entblössten Ärschen die gleiche Tätowierung prangt, haben wir unsere Sprache wieder gefunden und es kommt wie aus einem Mund: «Ist die neu?» Gekreische. «Was ist das?» Gelächter und Gekicher. Es ist eine Art chinesisches Schriftzeichen, das sie sich eben erst haben stechen lassen. Eine Tätowierung auf dem Arsch – was für ein Freundschaftsbeweis! Wir sind uns einig, dass ein tätowiertes Herz mit dem Namen des Freundes oder der Freundin lächerlich anmutet. Aber Freunde, die auf diese körperliche Art ein Leben lang aneinander erinnert werden wollen, das hat Stil!
Die Amazonen wollen den Jungs dann natürlich in nichts nachstehen und präsentieren voller Stolz ihren Freundschaftsring. Doch die Geste wirkt fad, ja die ganze Ringgeschichte wirkt plötzlich extrem langweilig und alltäglich. Schweren Herzens müssen wir diese Niederlage einstecken. Ich versuche dann zu trösten, indem ich sage: «Wir würden sowieso kein Motiv finden, das uns allen gefallen würde.» Worauf Lockenkopf wie aus der Pistole geschossen und in vollem Ernst sagt: «Ich glaube, ich würde ein Schmetterlingstattoo wollen.» Die Reaktion der anderen lässt nicht lange auf sich warten: «Ein Schmetterling? Spinnst du eigentlich?» Die durchdiskutierten Nächte, bis wir dann noch die geeignete Körperstelle auserkoren hätten, möchte ich uns doch lieber ersparen…

Lasst uns Pinguine sein!

Ach wie schön haben es werdende Pinguin-Eltern: Zuerst setzt sich die Pinguin-Dame auf das Nest mit dem Ei, während der Pinguin-Mann weite Strecken zu Fuss zurücklegt, um Nahrung für beide zu beschaffen. Die gefangenen Fische verstaut er in seinem Rachen und erbricht sie seiner Angebeteten geradewegs vor die Füsse. Nachher tauschen die Pinguin-Eltern die Rollen, das Pinguin-Männchen brütet das Ei, während die Pinguin-Dame auf die grosse Reise geht.

Karriere machen, Leute führen, viel Geld verdienen: Das machen Frauen heute fast genauso selbstverständlich wie Männer. Doch von ihren Partnern Mitverantwortung einzufordern, kann nicht allein den Frauen überlassen werden – vor allem, wenn auf struktureller Ebene immer noch so viele Ungleichheiten existieren. Schwangerschaft und Geburt sind per Naturgesetz Sache der Frau – doch auch nach der Entbindung bleibt noch genug Zeit für das Pinguin-Modell.

Ein grosser Schritt in diese Richtung wäre die Annahme der Elternzeit-Initiative, die am 15. Mai im Kanton Zürich zur Abstimmung gelangt. Sie verlangt eine Elternzeit von 36 Wochen; der Anspruch von 18 Wochen pro Elternteil wird gleichmässig unter den Eltern aufgeteilt. Warum eine Elternzeit in der Schweiz nötiger ist denn je, zeigt die neue Praxis im Scheidungsrecht: Neu haben Geschiedene nicht mehr automatisch Anrecht auf Unterhaltszahlungen, die Gerichte erkennen die Ehe nicht mehr als Vorsorgeinstitution an – was im Grundsatz völlig richtig ist. Doch in der Realität trifft es vor allem die Frauen hart, weil nach wie vor sie es sind, die beruflich zurückstecken, um mehr Betreuungsanteile bei den Kindern zu übernehmen. In Zukunft werden sie sich noch genauer überlegen müssen, ob sie ihren Job für die Familie wirklich ganz oder teilweise aufgeben.

Wann begreifen wir endlich, dass wahre Gleichstellung erst dann zur Realität wird, wenn Männer am Arbeitsplatz wegen einer Schwangerschaft genauso ausfallen könnten wie Frauen? Studien belegen: Die Elternzeit-Initiative mindert die Diskriminierung von Frauen bei Anstellungsentscheiden, Löhnen und Karrierechancen und führt zudem zu einer ausgeglichenen Arbeitsteilung im Haushalt und bei der Kinderbetreuungsarbeit. Wenn wir leben möchten wie die Pinguine, braucht es gleich lange Spiesse für Mütter und Väter. Deshalb: Sagen Sie am 15. Mai Ja zur Elternzeit-Initiative!

Der zweite Platz

Meine Mitbewohnerin rauft sich beim Ausfüllen der Steuererklärung die Haare: Warum wird die Ehefrau auf dem Deckblatt immer als «P2» bezeichnet und damit auf den zweiten Platz verwiesen? Emanzipation ist ein lebenslanger Prozess und die Genderfrage stellt sich überall, auch beim Steuernsparen. Wir, Frauen um die dreissig, wurden von Müttern erzogen, die sich selbstlos für ihre Familien aufgeopfert haben. Der zweite Platz reichte völlig aus, «ja nicht zu viel wollen»; so waren sie sozialisiert worden. Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, dass sie sich im Stillen nicht manchmal doch gefragt haben: Lebe ich wirklich in all meinen Möglichkeiten; aus meiner ganzen Fülle heraus? Selbst wenn viele Frauen unserer Müttergeneration im Lauf der Zeit wachsamer wurden für ihre Bedürfnisse, blieb die Selbstverwirklichung trotzdem meistens auf der Strecke. Die Zeit dafür war noch nicht reif oder einer der Ehepartner vermochte es nicht, über seinen eigenen Schatten zu springen. Heute ist alles anders, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wären vorhanden. Wir müssen nicht mehr an zweiter Stelle sein, von der Steuererklärung der Stadt Winterthur und ein paar anderen Baustellen einmal abgesehen. Unseren Müttern bleibt nur die Genugtuung, dass wir es besser machen werden. Und genau das sind wir ihnen schuldig.

Erschienen im «Winterthurer Stadtanzeiger», 22.05.2012

Schlitz-Neid

Den Seitenschlitz in der Männerunterhose scheint noch nie jemand ernsthaft hinterfragt zu haben. Er war einfach schon immer da – genauso wie die männliche Vorherrschaft der letzten Jahrhunderte.

Dabei vermittelt er ja ein so gar nicht schmeichelhaftes Bild der Männer: Im Stehen pinkeln, rülpsen und von Gott gegeben sein. Ich meine, ernsthaft: Kann mir jemand erklären, wofür es den Schlitz eigentlich braucht? Das Runterlassen der Hose auf Hüfthöhe dauert nun wirklich kurz genug!

Wie in der Gendermedizin und vielen anderen Bereichen orientiert man sich vielleicht auch in der Mode viel stärker an den Bedürfnissen der Männer: Ihnen designt man einen Schlitz, der bei Lichte betrachtet wirklich nicht nötig ist, während wir Frauen immer noch auf das Redesign des BHs warten.

Am Büstenhalter ist nicht nur der Name veraltet, sondern gleich das ganze Design. Die Häkchen, die beim Liegen in den Rücken pieksen, weisen auch nach hundert Jahren BH-Geschichte noch zu viele Parallelen mit dem freiheitsberaubenden Korsett von früher auf. Ich kenne genug Frauen, die sich ihres BHs entledigen, kaum sind sie in den eigenen vier Wänden.

Ich muss mir also eingestehen: Ich habe Schlitzneid. Während Frauen sich mit einem Kleidungsstück begnügen müssen, das einschneidet und einschränkt, ist der Weg zur luftigen Freiheit bei Männerslips so kurz wie ein Atemzug. Frauen, es ist wieder so weit: Verbrennt eure BHs! In diesen innovativen Zeiten ist das Überdenken eines Klassikers nun wirklich nicht zu viel verlangt.