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Ringen mit den Übermüttern

Ich bin jetzt seit vier Jahren Co-Parent. Also schon richtig erfahren! Im Klartext bedeutet dies: Ich bin kinderlos, gleichzeitig erhalte ich durch meinen Mann einen unverklärten Einblick ins Elterndasein. Einmal die Woche betreuen wir gemeinsam seinen Sohn. Wir hatten vorher beide überhaupt keine Erfahrung mit Kindern – umso mehr erstaunt es mich, wie rasch und unkompliziert wir in unsere Rollen hineingefunden haben. Wir sind ins Dasein als Tages- und Wochenendeltern geglitten wie in eine gut sitzende Jeans. Er kocht und baut mit dem Kleinen den Lego Mars Rover zusammen, ich lese ihm Bilderbücher vor und baue Sofahütten.  

Neulich hat der 5-Jährige beim Mittagessen verkündet, dass er Seepolizist werden möchte, wenn er gross ist. (Wegen dem Jetski). Und da wir am See wohnen und mein Mann seine Liebe und Zuneigung gern mit Kochen für seine Liebsten ausdrückt, meinte ich: «Dann würde Papi in deiner Mittagspause immer für dich kochen.» Daraufhin der Kleine: «Dann könnte ich immer zu euch an die alte Landstrasse kommen!» Diese Aussage hat mich so gerührt. Ihm Heimat zu schenken und Heimat zu sein, ist eine unermessliche Bereicherung für mich.

Doch Halt: Als Co-Parent gehöre ich nicht richtig zum Elternkosmos. Wenn ich Eltern davon berichte, dass ich den Kleinen vergöttere, aber auch wieder froh bin, wieder meine eigenen Wege gehen zu können, ernte ich schräge Blicke. Eigentlich hätte ich erwartet, dass man zu mir sagt: «Du hast es schön!» Oder zumindest: «Das kann ich sehr gut verstehen.» Stattdessen heisst es manchmal: «Wenn es die eigenen Kinder sind, ist es anders – viel vertrauter.»

Ein Satz wie ein Wurfgeschoss.

Ganz offensichtlich werde ich als Co-Parent im Elternkosmos für nicht ganz voll genommen. Wie überall da, wo es um Identität und Zugehörigkeit geht, werden mit fettem Edding Grenzen gezogen. Ich hier und du dort. «Vielleicht haben frisch gebackene Eltern Angst, die Bindung zu ihrem Kind zu gefährden, wenn sie sich ihren Wunsch nach Freiheit eingestehen», sagt Fabs am Samstagabend in der Wellnessoase. Immerhin ist sie gerade selbst zum ersten Mal Mutter geworden und bezeichnet ihr Kind als wünschenswertestes Wunschkind. 

Elternschaft trainiert die Liebesfähigkeit, und das ist sehr schön. Plötzlich nur noch ein grosser Ballen Gefühl zu sein: Das hätte mir bestimmt auch gefallen. Doch gleichzeitig ist mir als Freiheitsmensch die Vorstellung ein Graus, dass sich der Bewegungsradius so stark einschränkt und sich die Autonomie verabschiedet. Darf man es als Eltern bei aller Liebe für die Kinder nicht manchmal verfluchen, seiner eigenen Fremdbestimmung beraubt zu sein? Hinzu kommt: Der unbedingte Wille zur Aufopferung ist gefährliches Terrain. Vielleicht reagiere ich auch aus einem ganz bestimmten Grund so allergisch auf diesen Hang zur Bedürfnisnegierung: Weil es doch wieder oft die Väter sind, die ihren Raum besser verteidigen und sich Freiheiten ganz selbstverständlich herausnehmen. Väter, die im Wochenbett plötzlich einen vorher ungekannten sportlichen Ehrgeiz entwickeln, sich mit Verve in eine Sammelwut stürzen oder so ganz nebenher noch den selbst gebauten Windeleimer patentieren lassen.

Niemand kann mir weissmachen, dass die fehlende Spontanität und Freiheit des Elterndaseins nicht manchmal auch eine Bürde ist. Die gesteigerte Liebesfähigkeit hat ein Preisschild.

Oder kann es tatsächlich sein, dass sich in den mittleren Jahren, was das Bedürfnis nach Freiheit betrifft, eine gewisse Sattheit einschleicht? Oder dass die Autonomie ohnehin schon immer eine gänzliche Überforderung war und man froh ist, sie endlich loszusein? Wenn ich es mir genau überlege, kann ich es auch bei meinem Mann beobachten: Er geht mit der Fremdbestimmung lockerer um als ich. Ich kann gut damit leben, dass ich nun mal ein Mensch mit einem hohen Autonomiebedürfnis bin. Mir unterschwellig zu verstehen zu geben, ich könne als Co-Parent für die totale Selbstaufgabe wohl einfach nicht genug lieben, finde ich eine Anmassung. Wie innig und liebevoll Beziehungen auch mit etwas mehr Distanz sein können, beweisen Grosseltern und Enkelkinder jeden Tag. Unser Kind ist uns passiert. Dennoch habe ich mich für diesen Weg entschieden. Dafür habe ich  wenn nicht Anerkennung, so doch mindestens Respekt verdient.  

Im Wutpraktikum

-Ich begrüsse Sie herzlich zum Wutpraktikum! Ich heisse Elvira und bin Ihre Wut-Coach. Bevor wir mit einigen Lockerungsübungen beginnen, gehe ich noch rasch die Teilnehmerliste durch … ähm die TeilnehmerINNENliste. Wieder mal eine reine Frauenrunde hier. Oder etwa doch nicht – da hinten: Wie ist Ihr Name?

-Sascha Wiederkehr.

-Sascha Wiederkehr … hmmm … ach ja, hier. Auf meiner Liste steht, dass Sie sich für den Aggressionsmanagement-Kurs angemeldet haben. Das hier ist der Wut-Zulassungskurs. Eine häufige Verwechslung.  

-Bitte?

-Wir machen hier den Wut-TÜV. Ich bringe Frauen bei, ihre Wut zu umarmen. Grenzen verteidigen. Sie wissen schon. Für Sie also Zimmer 205. Viel Spass.

Nochmals von vorn: Herzlich Willkommen, liebe Fridas, Christines, Lauras und wie Sie alle heissen. Bitte entschuldigen Sie die leichte Verzögerung. Ich freue mich, Ihre Reisebegleiterin zu sein, wenn es wieder heisst: «Wie komme ich meiner gerechten Wut auf die Spur?» Der Name Wut-Praktikum ist leider etwas beschönigend. In Wahrheit ist es eher eine Art Boot-Camp. Und es gibt viel zu lernen, meine Damen. Tellerschmeissen, Türknallen, Möbelwerfen, Autolackzerkratzen und Mercedes-Stern-abknicken. Natürlich alles im Bereich des Legalen. Unsere Gefängnisse platzen ja vor lauter Männern schon aus allen Nähten.

Gründe für gerechten Zorn gibt es reichlich. Verdienen Sie weniger als ihr männlicher Kollege – bei genau gleicher Arbeit? Ersticken Sie am Mental Load? Sind Sie in der rosa Wolke versehentlich in die Hausfrauen-Falle getappt? Sie werden es kaum fassen, wie richtig Sie bei mir sind. Von einem cholerischen Vater abstammend und mit einem Mann verheiratet, der über fünf Jahre lang mit einer abgewrackten Trine rumgebumst und mit ihr Drillinge gezeugt und einen Hund adoptiert hat, kenne ich mich mit Wut ein bisschen aus. Und ich kann Ihnen sagen: Ich liebe meine Wut! Sie ist das echteste, was ich zu bieten habe. Verwurzeln Sie sich also mit beiden Füssen fest im Boden, schliessen Sie die Augen und spüren Sie in den Bauchraum: Dort schwelt sie, manchmal jahrelang im Stillen, und irgendwann entlädt sie sich wie ein Vulkan oder ein Feuerwerk.

Doch was bringt Ihnen Ihr Zorn?

Wo Tränen und Kummer Sie niederdrücken, befeuert Sie Ihr Zorn. Er schenkt Ihnen einen überwältigenden Energieschub, der sich direkt in Taten verwandeln lässt. Ich muss schon sagen: Den Frauen die Wut zu verbieten, war ein geschickter Schachzug des Patriarchats. Aber nun ist es mit vorbei mit der Gemütlichkeit! Frauen, entfesselt euch! Sie denken, dass es schon genug Wutbürger und Leid in der Welt gibt? Da haben sie völlig recht. Deshalb machen wir den Wut-TÜV ja auch hier, in einem geschützten Rahmen. Wir haben alle Vorkehrungen getroffen und eine vorteilhafte Zusammenarbeit mit Ikea ausgehandelt. Helme, Brillen und Schutzanzüge liegen bereit. Denn Vorsicht: Unterdrückte Wut kann besonders heftig sein. Hier und heute betreten wir Neuland. Auf Erfahrungswerte können wir nicht zurückreifen. Deshalb ist es gut, wenn sich Ihre Wut einmal probeweise entlädt. Und wenn sie sich nicht zeigen will, kitzeln wir sie ein wenig heraus. Ich bin mit allen Wassern gewaschen.   

Ich verletze Ihren Stolz.
Überschreite Ihre Grenzen.
Und zuletzt trample ich noch auf Ihrer Würde herum.

Auch wenn Ihre Glaubenssätze es Ihnen verbieten wollen: Ihr Zorn steht Ihnen zu. Und er steht Ihnen. Kommen Sie ruhig näher! Treten Sie an den Spiegel und begutachten Sie die wunderschöne Zornesfalte, die sich bei genauerem Hinsehen zwischen Ihren Augenbrauen erahnen lässt. Machen Sie es wie ich: Cremen Sie sie jeden Abend mit Kamelmilchfett ein, damit sie schön geschmeidig bleibt. Und lassen Sie den kostbaren Zorn ja nicht verpuffen! Er ist ein Wunderwerkzeug, denn er verrät Ihnen, wie viel Sie sich wert sind. Atmen Sie also lang aus und beim Einatmen zählen wir gemeinsam: Eins, zwei, …

Restkinderwunsch

Letzte Woche war ich wieder mal bei der Gynäkologin. Sie hat einen Krebsabstrich gemacht, meine Brüste abgetastet und mir allerlei Fragen gestellt. Vor allem zu meinem Zyklus. Natürlicherweise kam dabei auch die Frage aufs Tapet, wie es denn mit meinem Kinderwunsch aussehe. Ich habe gesagt, dass ich keine möchte.

Da meinte sie, dass angesichts meiner neu auftretenden Zyklusstörungen eine Progesteron-Therapie angebracht wäre, falls ich doch noch einen Restkinderwunsch verspüren würde. Einen Restkinderwunsch. Was um Himmels Willen ist ein Restkinderwunsch? Vielleicht liegt es ja an mir. Vielleicht habe ich mein Nein nicht entschieden genug zum Ausdruck gebracht. Und dennoch: Seit ich Anfang dreissig bin, beantworte ich nun jedes Jahr bei der Gynäkologin dieselbe Frage. Und ich bin es leid.

Brachliegender Uterus
Ich bin es leid, weil die Frage nach dem Kinderwunsch in so einem Setting einfach nicht neutral ist. Sie kann gar nicht neutral gestellt werden, wo im Wartezimmer doch all die Broschüren mit pausbäckigen Bébés auf dem Cover aufliegen. Da wird sosehr geframt – kein Wunder, kommt bei mir gleich ein Rechtfertigungsdruck auf! Schliesslich ist mein Gegenüber ja Fachärztin für die Funktionen des Uterus. Und jetzt liegt mein Uterus einfach so brach und wird willentlich nicht gebraucht. Da frage ich mich schon, warum mir das BAG eine jährliche Kontrolluntersuchung bei einer Uterus-Spezialistin empfiehlt. Jedes Jahr müssen diese Uterusse auf ihre Funktionstüchtigkeit getestet werden! Meine Blase nutze ich imfall tatsächlich und dazu noch oft und ich schaue deswegen auch nicht einfach so standardmässig jährlich beim Urologen vorbei. Ja klar, die Krebsvorsorge: Die ist mir wichtig. Könnte ich aber auch bei einer Hausärztin kriegen.

Keine Reduktion auf die Gebärfunktion!
Es mutet etwas ironisch an, ausgerechnet in der Gynäkologie Verbesserungen zu fordern. Im einzigen medizinischen Fach also, das sich ausschliesslich der Frauenmedizin zuwendet. Schliesslich hat man erst gerade entdeckt, dass die Schulmedizin die Frauen über Jahrzehnte hinweg schlichtweg vergessen hat. Doch genauso wichtig finde ich, Frauen in der Gynäkologie nicht auf das Gebären zu reduzieren. Oder für Frauen, die nicht gebären möchten, einfach andere Empfehlungen herauszugeben.

«Sie wissen aber schon, dass 40 Tage zu lang sind und 21 zu kurz?», hat die Ärztin dann noch gefragt, als es um meinen Zyklus ging. Und ich so: «Zu kurz oder zu lang wofür?» Das kleine Wörtchen «zu» ist bereits eine Problematisierung der Normabweichung. Als ich dann noch flachste, dass ich dann ja eigentlich eine natürliche Verhütung hätte, reagierte sie ein wenig säuerlich. Alles, was ich mir wünsche, ist eine ganzheitliche Medizin – und Fragen abseits vom Standardfragebogen.

Es lebe meine Unfruchtbarkeit!  

Der Killerblick

Neulich im improvisierten Fotostudio: Eine Freundin fotografiert mich für den Lebenslauf. Auf einem der Bilder habe ich meine Fransen nach hinten gesteckt, was so wirkt, als würde ich die Haube einer Ordensschwester tragen. «Mit diesem Foto könntest du dich glatt fürs Kloster bewerben!», sagt meine Freundin und wir lachen. Dann gibt es noch die Fotos mit Blazer, wo ich aussehe wie der Werbebroschüre einer Grossbank entsprungen. Eigentlich hätten wir das gerne weitergeführt – das ganze Spektrum von der Heiligen bis zur Hure. Auf Bewerbungsfotos soll man lächeln, aber ja nicht zu stark, weil das wieder unprofessionell wirkt. Brav und strebsam soll man aussehen. Und dabei auch noch sympathisch wirken. Mir schwirrt der Kopf. Hilfe, ich brauche Schauspielunterricht! Und beim Bewerbungsgespräch werden wir dann trotzdem wieder angehalten, authentisch zu sein. Ein Gedanke frustriert mich besonders: Lange Jahre habe ich damit zugebracht, herauszufinden, wer ich wirklich bin, nur um es in einem Bewerbungs-Kontext tunlichst wieder verschweigen zu müssen. Dabei sucht jedes Unternehmen Persönlichkeiten. Persönlichkeiten ganz ohne Ecken und Kanten, aalglatt und debil lächelnd wie auf dem Bewerbungsfoto. Ich bin keine Hure und keine Heilige, ich bin ein Mensch mit Einfühlungsvermögen, der den Anspruch hat, einen interessanten Job zu finden. Wie viele andere auch. Aber ein Ass im Ärmel habe ich noch: Auf einem der Nonnen-Fotos habe ich den absoluten Killer-Blick. Der jagt sogar mit Angst ein. Und den HR-Leuten hoffentlich auch.

Lasst uns Pinguine sein!

Ach wie schön haben es werdende Pinguin-Eltern: Zuerst setzt sich die Pinguin-Dame auf das Nest mit dem Ei, während der Pinguin-Mann weite Strecken zu Fuss zurücklegt, um Nahrung für beide zu beschaffen. Die gefangenen Fische verstaut er in seinem Rachen und erbricht sie seiner Angebeteten geradewegs vor die Füsse. Nachher tauschen die Pinguin-Eltern die Rollen, das Pinguin-Männchen brütet das Ei, während die Pinguin-Dame auf die grosse Reise geht.

Karriere machen, Leute führen, viel Geld verdienen: Das machen Frauen heute fast genauso selbstverständlich wie Männer. Doch von ihren Partnern Mitverantwortung einzufordern, kann nicht allein den Frauen überlassen werden – vor allem, wenn auf struktureller Ebene immer noch so viele Ungleichheiten existieren. Schwangerschaft und Geburt sind per Naturgesetz Sache der Frau – doch auch nach der Entbindung bleibt noch genug Zeit für das Pinguin-Modell.

Ein grosser Schritt in diese Richtung wäre die Annahme der Elternzeit-Initiative, die am 15. Mai im Kanton Zürich zur Abstimmung gelangt. Sie verlangt eine Elternzeit von 36 Wochen; der Anspruch von 18 Wochen pro Elternteil wird gleichmässig unter den Eltern aufgeteilt. Warum eine Elternzeit in der Schweiz nötiger ist denn je, zeigt die neue Praxis im Scheidungsrecht: Neu haben Geschiedene nicht mehr automatisch Anrecht auf Unterhaltszahlungen, die Gerichte erkennen die Ehe nicht mehr als Vorsorgeinstitution an – was im Grundsatz völlig richtig ist. Doch in der Realität trifft es vor allem die Frauen hart, weil nach wie vor sie es sind, die beruflich zurückstecken, um mehr Betreuungsanteile bei den Kindern zu übernehmen. In Zukunft werden sie sich noch genauer überlegen müssen, ob sie ihren Job für die Familie wirklich ganz oder teilweise aufgeben.

Wann begreifen wir endlich, dass wahre Gleichstellung erst dann zur Realität wird, wenn Männer am Arbeitsplatz wegen einer Schwangerschaft genauso ausfallen könnten wie Frauen? Studien belegen: Die Elternzeit-Initiative mindert die Diskriminierung von Frauen bei Anstellungsentscheiden, Löhnen und Karrierechancen und führt zudem zu einer ausgeglichenen Arbeitsteilung im Haushalt und bei der Kinderbetreuungsarbeit. Wenn wir leben möchten wie die Pinguine, braucht es gleich lange Spiesse für Mütter und Väter. Deshalb: Sagen Sie am 15. Mai Ja zur Elternzeit-Initiative!

Der zweite Platz

Meine Mitbewohnerin rauft sich beim Ausfüllen der Steuererklärung die Haare: Warum wird die Ehefrau auf dem Deckblatt immer als «P2» bezeichnet und damit auf den zweiten Platz verwiesen? Emanzipation ist ein lebenslanger Prozess und die Genderfrage stellt sich überall, auch beim Steuernsparen. Wir, Frauen um die dreissig, wurden von Müttern erzogen, die sich selbstlos für ihre Familien aufgeopfert haben. Der zweite Platz reichte völlig aus, «ja nicht zu viel wollen»; so waren sie sozialisiert worden. Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, dass sie sich im Stillen nicht manchmal doch gefragt haben: Lebe ich wirklich in all meinen Möglichkeiten; aus meiner ganzen Fülle heraus? Selbst wenn viele Frauen unserer Müttergeneration im Lauf der Zeit wachsamer wurden für ihre Bedürfnisse, blieb die Selbstverwirklichung trotzdem meistens auf der Strecke. Die Zeit dafür war noch nicht reif oder einer der Ehepartner vermochte es nicht, über seinen eigenen Schatten zu springen. Heute ist alles anders, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wären vorhanden. Wir müssen nicht mehr an zweiter Stelle sein, von der Steuererklärung der Stadt Winterthur und ein paar anderen Baustellen einmal abgesehen. Unseren Müttern bleibt nur die Genugtuung, dass wir es besser machen werden. Und genau das sind wir ihnen schuldig.

Erschienen im «Winterthurer Stadtanzeiger», 22.05.2012

Schlitz-Neid

Den Seitenschlitz in der Männerunterhose scheint noch nie jemand ernsthaft hinterfragt zu haben. Er war einfach schon immer da – genauso wie die männliche Vorherrschaft der letzten Jahrhunderte.

Dabei vermittelt er ja ein so gar nicht schmeichelhaftes Bild der Männer: Im Stehen pinkeln, rülpsen und von Gott gegeben sein. Ich meine, ernsthaft: Kann mir jemand erklären, wofür es den Schlitz eigentlich braucht? Das Runterlassen der Hose auf Hüfthöhe dauert nun wirklich kurz genug!

Wie in der Gendermedizin und vielen anderen Bereichen orientiert man sich vielleicht auch in der Mode viel stärker an den Bedürfnissen der Männer: Ihnen designt man einen Schlitz, der bei Lichte betrachtet wirklich nicht nötig ist, während wir Frauen immer noch auf das Redesign des BHs warten.

Am Büstenhalter ist nicht nur der Name veraltet, sondern gleich das ganze Design. Die Häkchen, die beim Liegen in den Rücken pieksen, weisen auch nach hundert Jahren BH-Geschichte noch zu viele Parallelen mit dem freiheitsberaubenden Korsett von früher auf. Ich kenne genug Frauen, die sich ihres BHs entledigen, kaum sind sie in den eigenen vier Wänden.

Ich muss mir also eingestehen: Ich habe Schlitzneid. Während Frauen sich mit einem Kleidungsstück begnügen müssen, das einschneidet und einschränkt, ist der Weg zur luftigen Freiheit bei Männerslips so kurz wie ein Atemzug. Frauen, es ist wieder so weit: Verbrennt eure BHs! In diesen innovativen Zeiten ist das Überdenken eines Klassikers nun wirklich nicht zu viel verlangt.

Den Blick über den Kivusee

Ich krieg n‘ Kind!
Wie total anders das klingt als: Ich bekomme ein Baby. Ein Bébé. Einen Säugling.
Doch egal mit wie viel Löwenmut oder Ehrfurcht man diesem Wunder im eigenen Leben entgegentritt: Das Resultat bleibt das gleiche. Zumindest beruflich manövriert sich die Frau, sobald sie schwanger wird, für Jahre ins berufliche Abseits.

«Du kannst dann ja schreiben, wenn das Kind schläft», raten mir Leute, die wohl ganz offensichtlich die Realität verkennen. Wie soll ich an Schreiben überhaupt nur denken, wenn mir die Babykotze in den Haaren klebt, sich die Schmutzwäsche türmt und alles irgendwie nach Scheisse müffelt? In der kurzen Zeitspanne, in der das Kind schläft, komme ich nicht mal dazu, in Ruhe eine Dusche zu nehmen, geschweige denn meine Haare zu waschen! Ich habe von Frauen (und Männern) gehört, die es als den grössten Luxus erachten, auf dem Klo ein paar Minuten nur für sich zu haben. Bestimmt wissen viele Leute, wie viel Pflege, Zeit, Geduld und Aufmerksamkeit so ein Kind einem abverlangt. Aber ganz offensichtlich wissen viele Menschen nicht, wie viel RUHE und RAUM das Schreiben erfordert. Mit vollem Terminkalender lässt sich verdammt schlecht schreiben und genauso wenig mit etwas, das einem ständige Aufmerksamkeit abverlangt. Jedenfalls ist das bei mir so und ich rate meinen Schreibschülern immer wieder, sich selbst darin unbedingt ernst zu nehmen.

Deine eigenen Bedürfnisse sowie deinen Anspruch darauf werden auf einen Schlag getilgt, sobald du so einen neu geborenen Menschen in den Armen hältst und ich finde das auch nicht in einem New Age-überwinde-dein-Ego-Sinn befreiend, sondern einfach nur scheisse. Es hat mich sehr viel Energie gekostet, zu erkennen, dass auch meine Bedürfnisse einen Wert haben. In meiner Familie verkörperten wie in vielen anderen Familien die Frauen den Altruismus und ich habe einen langen Weg zurückgelegt, bis mir aufging, dass auch Frauen egoistisch und Männer aufopferungsvoll und gütig sein können. Will ich etwas aufgeben, was ich mir mit Zähnen und Klauen erkämpft habe? Und zweitens: Will ich wirklich ein Leben, in dem sogar die grundlegendsten Dinge wie Körperpflege zu Luxusgütern werden? Natürlich ist es schön, eine Familie zu sein. Natürlich ist es horizonterweiternd, mit dem Nachwuchs den eigenen Spiegel vorgesetzt zu bekommen. Natürlich. Natürlich!

Und trotzdem: Ich krieg lieber kein Kind. Werde ich also eine jener Frauen, die aus Langweile ein Yoga-Retreat auf Fidschi buchen, jeden Tag einen warmen Kurkuma-Latte mit Mandelmilch trinken und zu viel Geld für teure bio-ledergegerbte Handtaschen ausgeben? Wohl kaum.

Auch wenn das in unserer Konsumwelt oft sehr scheinheilig klingt, möchte ich es trotzdem nicht ungesagt lassen: Ich glaube an das einfache Leben. Und einfach, das heisst in meinem Fall: mein Laptop, eine Tasse dampfenden Tee und den Blick über den Kivusee.

Vater werden wäre schön

«Ich würde gerne Vater werden!», sagte eine Freundin neulich aus heiterem Himmel. Vater? Weil die Karriereziele der Väter auch heute noch selten von einem Kinderwunsch durchkreuzt werden. Männer müssen sich nicht zwischen Kind und Karriere entscheiden, sondern machen frischfröhlich einfach beides. Frischfröhlich ist auch die Geschichte eines Jungvaters, die mir neulich zugetragen wurde: Spontan sei er von seinem Bruder auf eine Auto-Spritztour eingeladen worden. «Nimm die Kleine doch mit, ich hole euch ab», schlug dieser vor. Gute Idee, dachte sich der Jungvater, nahm seine kleine Tochter auf den Arm und stieg an Bord. Irgendwann stellte sich heraus, dass er die Trinkflasche für das Kind vergessen hatte. Und erst als das Töchterchen «Papi, Gaggi», brabbelte, fiel ihm siedend heiss ein, dass er ja auch keine Windeln eingepackt hatte. Notfallmässig hielten sie bei einem Laden, um Windeln zu kaufen. Verantwortung übernehmen, das habe er zuerst lernen müssen. Dass sich Angelina Jolie hat die Brüste amputieren lassen, weil ihre Kinder sie nicht an Brustkrebs verlieren sollen, berührt mich zwar einerseits tief. Und trotzdem ist mir nicht ganz wohl dabei. Weil es den Mythos der aufopferungsvollen Mutter noch mehr hochstilisiert. Wenn ein Vater die Windeln einzupacken vergisst, finden wir es lustig. Wenn es einer Mutter passiert, gilt sie als wirr. Ja, Vater zu werden wäre schön.

Erschienen im «Winterthurer Stadtanzeiger», 04.06.2013

Die Inflation des Josef

Von schönen Geschichten können wir doch alle nicht genug kriegen. Deshalb kehrt die Geschichte aller Geschichten auch alle Jahre wieder: Die Weihnachtsgeschichte. Sie hat sich in unser kollektives Gedächtnis eingegraben, sie «gehört» uns allen. Am Heiligen Abend wird sie vielleicht vorgelesen unter dem glitzernden Christbaum, doch viel wichtiger für unseren Weihnachts-Wissensschatz war wohl einst die schulische Sozialisation. Gehörte nicht jede und jeder von uns als Kind einem Krippenspiel-Ensemble an, sei es im Kindergarten oder in der Primarschule? Grundsätzlich gibt es in jedem Kindertheater zwei Arten von Kindern: Diejenigen mit Sprechrolle und diejenigen ohne, die Statisten. Ruhmreiche Sprechrollen in der Weihnachtsgeschichte sind zum Beispiel der Engel Gabriel oder die Heiligen Drei Könige aus dem Morgenland. Statistenrollen haben die Soldaten und die Hirten auf dem Feld, ausserdem die Tannen am Wegrand (mit Armbewegungen, die Sturm symbolisieren). Schon im zarten Vorschulalter werden wir also schubladisiert in scheu oder redselig, mutig oder feige, begabt oder tapsig, beliebt oder unbeliebt. Die Frage «Und was warst Du im Krippenspiel?» ist also nicht einfach irgendeine Frage, denn die Antwort gibt uns gleichzeitig Aufschluss darüber, welche Art von Kind der andere einst war. Das ist zwar grausam, in gewissen Situationen aber auch ganz praktisch. Ich könnte beispielsweise zu meinen Freundinnen sagen: «Der Typ hat wahrscheinlich als Kind eine Tanne gespielt» und sie wüssten genau, welche Art von Mensch ich meine. «Er ist ein totaler Langweiler» meint exakt das gleiche und klingt dabei ungleich gemeiner. Bei einer nicht repräsentativen Umfrage betreffend Krippenspiel bin ich vor allem beim Thema Maria und Josef auf Erstaunliches gestossen. Maria und Josef sind die eigentlichen Stars vom Krippenspiel, wenn man einmal vom Jesuskind absieht, das ja oftmals sowieso nur eine Puppe ist. Maria und Josef müssen am meisten Text auswendig lernen und treten erst noch über mehrere Szenen hinweg in Erscheinung. Männer, die angaben, als Jungs den Josef gespielt zu haben, traf ich überdurchschnittlich häufig, einige wollten ihn sogar «mehrmals» gespielt haben. Doch wo bleiben die Marias dieser Welt? Keine einzige habe ich angetroffen! Rechnerisch gesehen muss es jedoch genauso viele Mariadarstellerinnen wie Josefdarsteller geben, und es kann proportional auch nicht mehr Josefs geben als Engel oder Hirten. Ist das also Auswuchs klassischer männlicher Selbstüberschätzung? Nein. Vielmehr glaube ich, die Männer haben längst durchschaut, dass es ihrem Ruf schadet, wenn sie ehrlicherweise sagen, dass sie als Kind ein ruhmreicher Tannendarsteller waren. Deshalb flunkern sie und behaupten, dass sie den Josef gegeben hätten, weil der Josef ja die männliche Hauptrolle ist und somit prestigeträchtig. Doch ich erlaube mir hier, diesen groben Denkfehler zu entlarven: Wenn man ein bisschen weiterdenkt, wird schnell klar, dass dem Josef in der Weihnachtsgeschichte überhaupt keine Bedeutung beigemessen wird. Der Josef in der Weihnachtsgeschichte ist so etwas wie der Blinddarm in unserem Organismus: Es braucht ihn gar nicht. Eigentlich weiss niemand so genau, warum er eigentlich existiert. Der Vater von Jesus ist er jedenfalls definitiv nicht. Also, liebe Männer: Wenn schon lügen, dann wenigstens gekonnt. Vergesst den Josef. Sagt in Zukunft lieber, ihr seid eine der Heiligen drei Könige gewesen. Die verschenken grossmütig ihre Schätze, kennen sich mit Sternen aus und haben erst noch diesen Hauch von Exotik. Das sind Qualitäten, die heute gefragt sind.

  1. Dez. 2006, erschienen im Landboten