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Holunderblütennachmittage

Vor dem Blumenbeet knie ich mich nieder. Jemand hat Malven gepflanzt. Ich nehme einen Erdklumpen, zerreibe ihn mit den Fingern. Die trockene Erde fühlt sich angenehm kühl an. Es ist die Erde, in die ich hineingeboren wurde. Es ist aber auch die Erde, in der meine Eltern begraben liegen. Das Massaker Leben hat ihnen zugesetzt. Ein schmaler Pfad aus Steinplatten führt ans andere Ende des Gartens. Ich gehe ihn entlang. Langsamen, bemessenen Schrittes. Es ist Oberwind, verkündet meine Grossmutter, als müsste ich genau wissen, was das bedeutet. Sie ist eine Zeichenleserin. Seit ich denken kann, sagt sie das Wetter anhand der Wetterfahnen auf dem Kirchturmdach voraus.

„Bekommst du jetzt kein Heimweh?“, fragte Mutter, wenn ich sie aus dem fernen Südostasien anrief und die Glocken der Kirche schlagen hörte. Die viertelstündlichen Zeitangaben per Glockenschlag bedeuteten mir nie allzu viel. Die Pfarrerstochter mit den Sommersprossen und dem Moskitonetz war meine Freundin, obwohl sie mir in allem überlegen war. Sie war eine Art weiblicher Piratenkönig. Vielleicht wegen dem tansanischen Impfausweis, der ihre Geburt auf dem exotischen Kontinent verbürgte. Abenteuerliche Leben, die abenteuerlich beginnen. Wegen dem weissen Streifen in ihren Haaren – ein Pigmentfehler. Oder ihren Stofftieren: Dem weissen Panther und der Zitronenmaus vor der Abfahrt in die Italienferien – die Insel lockt, ein Ferienhäuschen mit Plumpsklo und Tanz auf dem Kraterrand.

Die Eremitin, die sagt, es kommt nicht darauf an, was einem das Leben gibt, sondern was man daraus macht. Meine Achtung vor der Freundin könnte größer kaum sein. Mit vier hat sie mir das Schaukeln beigebracht. Mit 18 floh sie aus der Enge der Dorfgemeinschaft. Ich bin geblieben. Mit dem Tod meiner Mutter ging ein Auftrag zu Ende.

Ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht als eine Schaukel unter dem Zwetschgenbaum. Doch der Baum war zu morsch, hieß es. Arbeit war wichtig. Gute Gastgeber, das waren meine Eltern. Verhätschelte Hunde haben sie genauso fraglos akzeptiert wie verhätschelte Kinder oder wilde Jugendliche. Nichts Menschliches war ihnen fremd –  er, die Liebe meines Lebens, erkennt die Unschuld in meinen Augen. Die Unschuld, die vielleicht nur an einem Ort wie diesem entstehen kann.

Ich habe das Boot geliebt, das meine Eltern besaßen. Zusammen mit dem pinkfarbenen, aufblasbaren Delfin. Meine Eltern haben immer verstanden, dass es Kinder ans Wasser zieht. Faule, sonnige Sonntage auf dem See. Nein, ich habe nie auf dem Kraterrand getanzt, dafür aber mit meinem pinkfarbenen Delfin jede Welle geritten. Oder dann habe ich vorne auf dem Boot gesessen und meine Zehen gezählt. Jemand hat eine Häuschenschnecke an den Holzverschlag gemalt – mit wasserfester Farbe. Seit Jahren lacht die Schnecke mir zu, so wie auch der Gartenzwerg mir schelmisch zuzwinkert.

Später war der Sonntag der hektischste Tag der Woche. Am Sonntag stand das Adrenalin hoch. Da wurde Eis verkauft, Hamburger, Hotdogs … ich kann die Speisekarte heute noch auswendig. Darf ich stolz sein? Ich dürfte es. Während andere Familien an sonntäglichen Holunderblütennachmittagen um den Gartentisch gesessen, Kuchen gegessen und Sirup getrunken haben, waren unsere Sonntage vor allem mit Arbeit angefüllt.

Das Holz ist morsch geworden. Der einzige Baum, der noch steht, ist der Baum, dem ich meine Geheimnisse anvertraut habe. Der Nebel dieser Landschaft im Herbst, die Berge von Zuckerrüben, die bald in die nahe Zuckerfabrik überführt werden – das alles rührt mich an. Ich gehöre in diese Erde, sie hat sich in mich eingeschrieben. Doch ich bin eine Vertriebene. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich geblieben. Für immer.

„Irgendwo muss man seine Wurzeln ja angeben“, sagt die lebenskluge kleine Frau mit dem grünen Band im Haar. Auch sie hat Abschiede erlebt. „Bleibst du bei mir?“, frage ich ihn, und ich meine damit nicht die Dinge, die einem in der Zähigkeit eines grauen Alltags zustoßen können, Geschichten von Fremdgehen oder Fremdlieben. Der Sensenmann ist auf Heimurlaub in der Südsee, sagt er. Der Sonntag ist der Familientag, hätte es sein sollen. Dass er es nicht war, hatte seine Gründe. Aber es gibt keinen Grund, warum er es nicht sein könnte.

In: Dreiundsechzig, Kameru Verlag

Löwenbaby sein

Ich setze den Pinsel an und male sorgfältig den ersten Strich. Maler sind sowieso nicht beliebt, wegen der Dämpfe, hat Marjola gesagt. Meine Füsse auf dem warmen Asphalt. Ich sehne mich nach der Kühle einer Kirche. Alles so sommerlich hier. Die Sommer meiner Kindheit, die grosse, verwitterte Villa mit den hohen Fenstern. Der goldumrahmte Eingang, die Giebelstatuen an den Fenstern. Meine Familie muss einst reich gewesen sein. Zu Zeiten von Michelangelo vielleicht. Meine erste Wohnung in der Stadt mit den Milchquadrat-Fenstern und dem hereindrängenden Verkehrslärm erzählt eine andere Geschichte. Ich kneife die Augen zusammen, versuche mich nur auf die Pinselstriche zu konzentrieren. Eine Frau mit dickem, schwarzem Haar … ist es meine Mutter? Hundepfoten, die auf dem hitzeabweisenden Marmorboden des Südens dahintrippeln. Der karamellfarbene Collie war ihr ständiger Begleiter. Ihr bodenlanges schwarzes Kleid, das ihr dieses Schauspieler-Image verleiht. Erinnerungen zerfallen in meinen Händen zu Staub.

Das Haus am Ende der Strasse, sagte ich damals zu meinem Freund. Er liest mir die Namen auf den Klingelschildern vor: Fam. Taucher auf Top 14, Fam. Pilz, Horat, Kiffmann. Ich möchte ein Löwenbaby sein, sagte ich, als er atemlos oben ankam. Das Ticket von Ehtiopian Airlines kautfe ich noch am selben Tag.

Die bunten Mosaiksteinchen glitzern in der Tropensonne. Kirchen gibt es hier keine, dafür viele Moscheen. Meine Mutter war keine besonders brave Frau gewesen, hatte sich dem Priester-Vater widersetzt, um einen Wilden zum Mann zu nehmen. Der Dorfplatz in einer samtenen, mondlosen Nacht, ein angenehmer Windhauch streicht mir über die Haut. Lichter gibt es wenige, junge Männer stehen im Kreis und reden. Später fährt einer mit dem Fahrrad über den Platz. Saadani Safari Lodge, steht auf einem Zettel geschrieben, den mir die Marjola mitgegeben hat. Eine mutige Frau, das sei sie gewesen, hatte Marjola gesagt. Nicht immer ganz einfach. Stur bis zur Boshaftigkeit, aufbrausend, ehrlich, kampfeslustig, aber auch sanftmütig und bescheiden. Bin ich das Produkt einer heissen Tropennacht während des Aufstands gegen die Kolonialisten? Meine Geschichte ist hinter der Erdkrümmung verschwunden – dort, wo ich sie nicht mehr erreichen kann.

Am Ufer sehe ich einige Flusspferde, die im Licht der aufgehenden Sonne baden. Ich hätte früher kommen sollen, um dann vielleicht für immer zu bleiben. Ich nippe an meinem Kaffeebecher und nähre den Salzsee in meinem Innern. Viel später kommt mir ein älterer Mann mit einem langen weissen Kaftan am Strand entgegen. Die Menschen hier leben von dem, was das Meer hergibt. Es ist später Nachmittag, das Meer hat sich zurückgezogen – »Gute Reise, Meer«, flüstere ich. Der Mann kommt näher, jetzt sehe ich, dass er einige glänzende Fische an einem Haken mit sich trägt. Vieläugig starren sie mich an. Mein Schritt verlangsamt sich. Der Mann hält inne, schaut mich an. Einzig die verschiedenen Farben des Meeres können es bezeugen, als er auf Suaheli sagt: »Karibu sana, toto.« (Willkommen, Kind)

Ankämpfen gegen die eigene Endlichkeit

Heute war es wunderbar sonnig und warm, ich hatte frei und ging zum Schreiben auf die schöne Plattenwiese mit Panoramablick über den See. Auf dem Spielplatz neben der Wiese sind mir mehrere Väter mit Kinderwagen begegnet. Der Anblick der Väter mit ihren Trinkfläschchen und Zahngummis und was der Henker sie sonst noch alles mitführen, hat mich wieder mal daran erinnert, dass diese Kleinkindphase einfach überhaupt nicht zu mir spricht. Sie interessiert mich als Lebensphase null. Und wenn es schon von aussen langweilig aussieht: Ich meine, kann es dann in der Innenansicht wirklich aufregender sein? Klar, man hat manchmal schon Erlebnisse abseits der Routine wie «Stämpfeli»-Anfälle und vollgekackte Unterhosen. Da muss man sich schon fragen: Soll ich mir das wirklich antun? Muss man natürlich nicht. Warum auch.

Neulich wurde in der Zeitung eine glückliche Mutter zitiert, die sagte: «Letztendlich habe ich mit meinen Kindern einfach Beziehungen zu tollen Menschen geschenkt bekommen!» Und weil ich dem Lebensentwurf klassisches Familienmodell ehrlich und aufrichtig eine Chance geben will, habe ich diesen Gedanken weitergesponnen und folgendes gedankliches Experiment gewagt: Wenn Kinder zu haben die einzige Möglichkeit wäre, Beziehungen zu Menschen aufzubauen … dann hätte ich alles, wirklich alles daran gesetzt, selbst auch Kinder zu haben. Dann hätte ich sogar mehrere! Aber – und hier endet das gedankliche Experiment bereits wieder – es ist nun mal nicht die einzige Möglichkeit, Beziehungen zu Menschen zu pflegen.

Warum denn gleich selber produzieren?

Und ich möchte auch den Wahrheitsgehalt der Worte aus dem Mund der glücklichen Mutter anzweifeln, denn: Das sind ja nicht Beziehungen, die wir frei wählen können. Sie werden uns quasi qua Universum gesandt. Ich meine, sind wir ehrlich: Da kann man einfach Glück oder Pech haben im biologischen Roulette. Ist das vielleicht das Reizvolle daran? Dass wir total die Kontrolle aus der Hand geben müssen? Bei allem guten Willen: Auch das klingt nicht nach Bucket-List. Oder ist es vielleicht die Neugier, ob man tatsächlich diese tiefe Liebe für ein Kind empfinden kann, auch wenn man nie verstehen wird, warum es sich für altägyptischen Bestattungsriten interessiert und diese mit Stofftieren nachspielt? Der glücklichen Mutter würde ich gern entgegnen: «Wenn du dir Beziehungen zu anderen Menschen wünschst, dann such dir halt Freunde. Ist es nicht etwas extrem, gleich welche produzieren zu wollen?»

Ich kann es zwar nicht nachvollziehen, aber statistisch gesehen ist es wohl so, dass ich als Kinderfreie einer Minderheit angehöre. Oft vergesse ich das. Bei meinem letzten Klassentreffen wurde es mir wieder mal so richtig deutlich vor Augen geführt, denn: Die meisten meiner ehemaligen Mitschüler:innen der Oberstufe haben zwei, drei, vier oder sogar fünf Kinder! F-Ü-N-F Kinder! Es hat mich echt entsetzt. Ich meine, woher nimmt man dieses Selbstverständnis? Man setzt Kinder in die Welt without the blink of an eye – und hat nicht mal den leisesten Zweifel, ob man der Menschheit damit wirklich etwas Gutes tut. Ist das nicht einfach nur selbstgerecht? Aber natürlich war es wieder mal so, dass nicht ich meine ehemaligen Mitschüler:innen gefragt habe: «Du, warum hast du eigentlich – so viele – Kinder?» Stattdessen wurde ich gefragt: «Hast du dir nie Kinder gewünscht?» Heikle Frage, aber ganz offensichtlich hat die Person das nicht abgeschreckt. Ich habe dann gesagt: «Ich brauche viel Raum und Konzentration für mein Schreiben, und Kinder sind Chaos-Maschinen, die mich in meinem künstlerischen Prozess stören würden.» Vielleicht habe ich es auch anders formuliert, eher kürzer und weniger kunstbezogen. Mehr so im Stil von: «Ich lebe nicht gern mit Kindern zusammen. Die machen Lärm.» Typisch, dass solche Fragen immer von jener Sorte Mensch gestellt wird, die sich von der Antwort provoziert fühlt.

Selbstbestimmt und zeitsouverän

Nun gut. Wenn ich es nicht schon längst aufgegeben hätte, hätte ich zurückgefragt: «Warum hast du dir denn Kinder gewünscht und dir diesen Wunsch erfüllt?» Aber ich weiss genau, wie einfallslos die Antworten ausfallen, deshalb erspare ich mir das mittlerweile. Niemand will es zugeben, aber letztlich ist bei allen doch einfach die Angst vor der eigenen Endlichkeit der ausschlaggebende Faktor – sowie eine kräftige Portion Übermut. Und weil Reproduktion dem Gefühl von Unsterblichkeit noch am nächsten kommt, bekommt man halt Kinder.

Am Morgen nach der Klassenzusammenkunft – ein Sonntag – erlebe ich ein Aufwachen, das mich in allem bestätigt: Ich dämmere nach einem tiefen und störungsfreien Schlaf in den Tag hinein und denke: Was für ein Luxus, aufzuwachen, wenn meine biologische Uhr es für richtig hält und mir dann erstmal eine Tasse Kaffee zu machen und mich dann wieder ins Bett zu verkriechen, um zu schreiben oder zu lesen …  So selbstbestimmt und zeitsouverän zu sein und dazu noch Freundschaften zu unterschiedlichen Menschen aus verschiedenen Kontexten zu pflegen … das ist für mich das wahre und gute Leben und jeder Lebensentwurf, der mir das verunmöglicht oder nur schon erheblich erschwert, hat mir einfach nichts zu bieten. I do it my way, summe ich leise vor mich hin, und der Stoffdrache, den wir meinem Ziehsohn aus den Ferien mitgebracht haben, erhebt seine Kopfstimme und krächzt in den schiefsten Tönen: «I do it my way …»

Ringen mit den Übermüttern

Ich bin jetzt seit vier Jahren Co-Parent. Also schon richtig erfahren! Im Klartext bedeutet dies: Ich bin kinderlos, gleichzeitig erhalte ich durch meinen Mann einen unverklärten Einblick ins Elterndasein. Einmal die Woche betreuen wir gemeinsam seinen Sohn. Wir hatten vorher beide überhaupt keine Erfahrung mit Kindern – umso mehr erstaunt es mich, wie rasch und unkompliziert wir in unsere Rollen hineingefunden haben. Wir sind ins Dasein als Tages- und Wochenendeltern geglitten wie in eine gut sitzende Jeans. Er kocht und baut mit dem Kleinen den Lego Mars Rover zusammen, ich lese ihm Bilderbücher vor und baue Sofahütten.  

Neulich hat der 5-Jährige beim Mittagessen verkündet, dass er Seepolizist werden möchte, wenn er gross ist. (Wegen dem Jetski). Und da wir am See wohnen und mein Mann seine Liebe und Zuneigung gern mit Kochen für seine Liebsten ausdrückt, meinte ich: «Dann würde Papi in deiner Mittagspause immer für dich kochen.» Daraufhin der Kleine: «Dann könnte ich immer zu euch an die alte Landstrasse kommen!» Diese Aussage hat mich so gerührt. Ihm Heimat zu schenken und Heimat zu sein, ist eine unermessliche Bereicherung für mich.

Doch Halt: Als Co-Parent gehöre ich nicht richtig zum Elternkosmos. Wenn ich Eltern davon berichte, dass ich den Kleinen vergöttere, aber auch wieder froh bin, wieder meine eigenen Wege gehen zu können, ernte ich schräge Blicke. Eigentlich hätte ich erwartet, dass man zu mir sagt: «Du hast es schön!» Oder zumindest: «Das kann ich sehr gut verstehen.» Stattdessen heisst es manchmal: «Wenn es die eigenen Kinder sind, ist es anders – viel vertrauter.»

Ein Satz wie ein Wurfgeschoss.

Ganz offensichtlich werde ich als Co-Parent im Elternkosmos für nicht ganz voll genommen. Wie überall da, wo es um Identität und Zugehörigkeit geht, werden mit fettem Edding Grenzen gezogen. Ich hier und du dort. «Vielleicht haben frisch gebackene Eltern Angst, die Bindung zu ihrem Kind zu gefährden, wenn sie sich ihren Wunsch nach Freiheit eingestehen», sagt Fabs am Samstagabend in der Wellnessoase. Immerhin ist sie gerade selbst zum ersten Mal Mutter geworden und bezeichnet ihr Kind als wünschenswertestes Wunschkind. 

Elternschaft trainiert die Liebesfähigkeit, und das ist sehr schön. Plötzlich nur noch ein grosser Ballen Gefühl zu sein: Das hätte mir bestimmt auch gefallen. Doch gleichzeitig ist mir als Freiheitsmensch die Vorstellung ein Graus, dass sich der Bewegungsradius so stark einschränkt und sich die Autonomie verabschiedet. Darf man es als Eltern bei aller Liebe für die Kinder nicht manchmal verfluchen, seiner eigenen Fremdbestimmung beraubt zu sein? Hinzu kommt: Der unbedingte Wille zur Aufopferung ist gefährliches Terrain. Vielleicht reagiere ich auch aus einem ganz bestimmten Grund so allergisch auf diesen Hang zur Bedürfnisnegierung: Weil es doch wieder oft die Väter sind, die ihren Raum besser verteidigen und sich Freiheiten ganz selbstverständlich herausnehmen. Väter, die im Wochenbett plötzlich einen vorher ungekannten sportlichen Ehrgeiz entwickeln, sich mit Verve in eine Sammelwut stürzen oder so ganz nebenher noch den selbst gebauten Windeleimer patentieren lassen.

Niemand kann mir weissmachen, dass die fehlende Spontanität und Freiheit des Elterndaseins nicht manchmal auch eine Bürde ist. Die gesteigerte Liebesfähigkeit hat ein Preisschild.

Oder kann es tatsächlich sein, dass sich in den mittleren Jahren, was das Bedürfnis nach Freiheit betrifft, eine gewisse Sattheit einschleicht? Oder dass die Autonomie ohnehin schon immer eine gänzliche Überforderung war und man froh ist, sie endlich loszusein? Wenn ich es mir genau überlege, kann ich es auch bei meinem Mann beobachten: Er geht mit der Fremdbestimmung lockerer um als ich. Ich kann gut damit leben, dass ich nun mal ein Mensch mit einem hohen Autonomiebedürfnis bin. Mir unterschwellig zu verstehen zu geben, ich könne als Co-Parent für die totale Selbstaufgabe wohl einfach nicht genug lieben, finde ich eine Anmassung. Wie innig und liebevoll Beziehungen auch mit etwas mehr Distanz sein können, beweisen Grosseltern und Enkelkinder jeden Tag. Unser Kind ist uns passiert. Dennoch habe ich mich für diesen Weg entschieden. Dafür habe ich  wenn nicht Anerkennung, so doch mindestens Respekt verdient.  

Bin ich leichte Beute?

In letzter Zeit passieren mir echt die merkwürdigsten Dinge. Anfang des Sommers hat mich ein Mann in Businesskleidung in der Löwenstrasse angesprochen: Er komme aus Indien und sei Auraleser. Ich hätte eine auffallend lebendige Aura, und ohne weiteres Nachfragen von meiner Seite ging es los: Ich würde meinen Job mögen, doch seit einiger Zeit hätte ich ein Projekt im Hinterkopf, das auf seine Verwirklichung warte. Er sagte noch ein paar andere Dinge. Ich hörte halb misstrauisch, halb interessiert zu. Irgendwann fragte er nach meinem Namen – und ich spürte instinktiv: Jetzt ist es Zeit zu verduften. Verriete ich ihm meinen Namen, wäre er psychologisch im Vorteil – und diese Macht wollte ich ihm nicht zugestehen. Ich hatte keine Angst vor ihm – ich fand es einfach interessant, mich zu fragen, ob ich ihm vertraute und mich von aussen beim Abwägen zu beobachten. Schliesslich bin ich schon so viel gereist in meinem Leben, da sollte mein Vertrauensmuskel schon etwas trainiert sein. Gerade als alleinreisende Frau wird die Frage, ob man jemandem vertraut, sehr schnell existenziell. Ich weiss nicht, ob Männer das überhaupt verstehen. Doch als Frau gelesen zu werden, bedeutet in fast allen Teilen der Welt, in der schwächeren Position zu sein.

Nun denn – gestern wurde ich am See von einer jungen Frau angesprochen. Sie habe mit ihren Freunden eine Challenge am laufen: Sie würden Briefe schreiben und diese dann an Fremde verteilen. Ich meinte gleich, als Frau des Wortes würde ich natürlich sehr gern einen Brief einer Unbekannten erhalten! Wir kamen nett ins Gespräch. Bei ihr zweifelte ich interessanterweise nicht im Geringsten an ihrer Aufrichtigkeit. Bis ich dann nach Hause kam und die Begegnung meinem Liebsten schilderte. «Die ist doch von Scientology!», meinte er, der die Welt offensichtlich aus ganz anderen Augen betrachtet als ich. Seither hat sich der Zweifel verhakt: Bin ich einer Sektenfängerin auf den Leim gekrochen? Das einzige Mal, als ich leicht stutzte, war, als sie in ihren Beutel griff und dann entschuldigend meinte, sie sei zu hastig aus dem Haus gegangen und hätte den Brief nicht mitgenommen. Geht man mit der Absicht aus dem Haus, jemanden für eine Mutprobe anzusprechen ohne sich zu vergewissern, den Brief dabei zu haben?

Entpuppen sich ihre Freunde als Mitglieder einer Sekte? Die Challenge als Befehl von oben? Etwas mulmig wird mir schon, wenn ich an unser Gespräch zurückdenke. Denn nun fällt mir auf, dass wir ziemlich schnell über Religion sprachen. Sie erwähnte beiläufig, sie sei in einem religiösen Haushalt aufgewachsen und würde nun, mit 25, gewisse Glaubenssätze hinterfragen. Ich erzählte ihr, dass ich als Redaktorin für ein Mitgliedermagazin der reformierten Kirche arbeite. Und schob gleich hinterher, dass ich nicht über religiöse Inhalte schreiben würde. Ob ich denn einmal reingeschaut hätte, in die Bibel? Daraufhin meinte ich spontan: «Schon – aber es gibt bessere Bücher!»

Sie versprach, mir den Brief zuzustellen und ich gab ihr leutselig meine Postadresse.

Nun frage ich mich die ganze Zeit: Was zum Kuckuck steht in diesem Brief?

Ich las sie als junge Frau der Gen Z, die vieles ausprobieren möchte – unter anderem so etwas altmodisches wie einen Brief mit Stift und Papier zu schreiben. Doch wegen der saloppen Bemerkung meines Liebsten zweifle ich nun an meiner Menschenkenntnis. Warum hat mein Frühwarnsystem so gar nicht ausgeschlagen? Bin ich für Menschen mit Hintergedanken leichte Beute? Der indische Auraleser hat mir noch den 21. Oktober als meinen Glückstag prophezeit. Vielleicht wird er ja meinen Eintritt in eine Sekte markieren. Dann halten wir uns an den Händen und singen gemeinsam das Lied von Patent Ochsner: «Uf all diä wo e grosses Herz hend und sich das nid löhnd lah näh.»

Im Wutpraktikum

-Ich begrüsse Sie herzlich zum Wutpraktikum! Ich heisse Elvira und bin Ihre Wut-Coach. Bevor wir mit einigen Lockerungsübungen beginnen, gehe ich noch rasch die Teilnehmerliste durch … ähm die TeilnehmerINNENliste. Wieder mal eine reine Frauenrunde hier. Oder etwa doch nicht – da hinten: Wie ist Ihr Name?

-Sascha Wiederkehr.

-Sascha Wiederkehr … hmmm … ach ja, hier. Auf meiner Liste steht, dass Sie sich für den Aggressionsmanagement-Kurs angemeldet haben. Das hier ist der Wut-Zulassungskurs. Eine häufige Verwechslung.  

-Bitte?

-Wir machen hier den Wut-TÜV. Ich bringe Frauen bei, ihre Wut zu umarmen. Grenzen verteidigen. Sie wissen schon. Für Sie also Zimmer 205. Viel Spass.

Nochmals von vorn: Herzlich Willkommen, liebe Fridas, Christines, Lauras und wie Sie alle heissen. Bitte entschuldigen Sie die leichte Verzögerung. Ich freue mich, Ihre Reisebegleiterin zu sein, wenn es wieder heisst: «Wie komme ich meiner gerechten Wut auf die Spur?» Der Name Wut-Praktikum ist leider etwas beschönigend. In Wahrheit ist es eher eine Art Boot-Camp. Und es gibt viel zu lernen, meine Damen. Tellerschmeissen, Türknallen, Möbelwerfen, Autolackzerkratzen und Mercedes-Stern-abknicken. Natürlich alles im Bereich des Legalen. Unsere Gefängnisse platzen ja vor lauter Männern schon aus allen Nähten.

Gründe für gerechten Zorn gibt es reichlich. Verdienen Sie weniger als ihr männlicher Kollege – bei genau gleicher Arbeit? Ersticken Sie am Mental Load? Sind Sie in der rosa Wolke versehentlich in die Hausfrauen-Falle getappt? Sie werden es kaum fassen, wie richtig Sie bei mir sind. Von einem cholerischen Vater abstammend und mit einem Mann verheiratet, der über fünf Jahre lang mit einer abgewrackten Trine rumgebumst und mit ihr Drillinge gezeugt und einen Hund adoptiert hat, kenne ich mich mit Wut ein bisschen aus. Und ich kann Ihnen sagen: Ich liebe meine Wut! Sie ist das echteste, was ich zu bieten habe. Verwurzeln Sie sich also mit beiden Füssen fest im Boden, schliessen Sie die Augen und spüren Sie in den Bauchraum: Dort schwelt sie, manchmal jahrelang im Stillen, und irgendwann entlädt sie sich wie ein Vulkan oder ein Feuerwerk.

Doch was bringt Ihnen Ihr Zorn?

Wo Tränen und Kummer Sie niederdrücken, befeuert Sie Ihr Zorn. Er schenkt Ihnen einen überwältigenden Energieschub, der sich direkt in Taten verwandeln lässt. Ich muss schon sagen: Den Frauen die Wut zu verbieten, war ein geschickter Schachzug des Patriarchats. Aber nun ist es mit vorbei mit der Gemütlichkeit! Frauen, entfesselt euch! Sie denken, dass es schon genug Wutbürger und Leid in der Welt gibt? Da haben sie völlig recht. Deshalb machen wir den Wut-TÜV ja auch hier, in einem geschützten Rahmen. Wir haben alle Vorkehrungen getroffen und eine vorteilhafte Zusammenarbeit mit Ikea ausgehandelt. Helme, Brillen und Schutzanzüge liegen bereit. Denn Vorsicht: Unterdrückte Wut kann besonders heftig sein. Hier und heute betreten wir Neuland. Auf Erfahrungswerte können wir nicht zurückreifen. Deshalb ist es gut, wenn sich Ihre Wut einmal probeweise entlädt. Und wenn sie sich nicht zeigen will, kitzeln wir sie ein wenig heraus. Ich bin mit allen Wassern gewaschen.   

Ich verletze Ihren Stolz.
Überschreite Ihre Grenzen.
Und zuletzt trample ich noch auf Ihrer Würde herum.

Auch wenn Ihre Glaubenssätze es Ihnen verbieten wollen: Ihr Zorn steht Ihnen zu. Und er steht Ihnen. Kommen Sie ruhig näher! Treten Sie an den Spiegel und begutachten Sie die wunderschöne Zornesfalte, die sich bei genauerem Hinsehen zwischen Ihren Augenbrauen erahnen lässt. Machen Sie es wie ich: Cremen Sie sie jeden Abend mit Kamelmilchfett ein, damit sie schön geschmeidig bleibt. Und lassen Sie den kostbaren Zorn ja nicht verpuffen! Er ist ein Wunderwerkzeug, denn er verrät Ihnen, wie viel Sie sich wert sind. Atmen Sie also lang aus und beim Einatmen zählen wir gemeinsam: Eins, zwei, …

Seine Hände

Neulich legte ich mitten in der Nacht meine Hand in seine, sodass sich unsere Fingerglieder ineinander verschränkten. Der sanften Berührung im Schwebezustand zwischen Wachsein und Schlaf entstieg sofort der Drang, über diese unglaublichen Hände zu schreiben. Es gab auch schon andere Männerhände in meinem Leben: Solche, die fast zu klein wirkten für den stattlichen Besitzer und mich deshalb rührten. Was für heimliche Schönheitsrituale verbargen sich hinter den akkurat geschnittenen Nägeln auf den verstörend gepflegten Nagelbetten?, fragte ich mich.  

Seine Hände mit den langen, festen Gliedern haben genau die richtige Grösse: Sie umschliessen meine Hände ohne zu starken Druck. Die Haut fühlt sich samtig-weich an, ist stets trocken und schenkt Sommer wie Winter mediterrane Sonnenwärme. Speicherhitze wie zu Grossmutters Zeiten der Kachelofen! «D Meitli leged d Händsche a, d Buebe laufed gschwind», heisst es in einem sehr bekannten Deutschschweizer Kinderlied. Handschuhe trägt er im Winter tatsächlich fast nie, ich hingegen gehe selten ohne aus dem Haus. Es sei denn, seine unglaublichen Hände sind in Griffweite.

Es sind Hände, die nie tropisch-feucht-ekelerregend sind. Ein Mann mit Händen, die sich falsch anfühlen: Schwierig, ja unmöglich. Das Verlangen nach seinen Händen zerrte sofort an mir. Es ist die Sehnsucht nach diesem Urgefühl: Dem Geborgensein durch ihn.

Restkinderwunsch

Letzte Woche war ich wieder mal bei der Gynäkologin. Sie hat einen Krebsabstrich gemacht, meine Brüste abgetastet und mir allerlei Fragen gestellt. Vor allem zu meinem Zyklus. Natürlicherweise kam dabei auch die Frage aufs Tapet, wie es denn mit meinem Kinderwunsch aussehe. Ich habe gesagt, dass ich keine möchte.

Da meinte sie, dass angesichts meiner neu auftretenden Zyklusstörungen eine Progesteron-Therapie angebracht wäre, falls ich doch noch einen Restkinderwunsch verspüren würde. Einen Restkinderwunsch. Was um Himmels Willen ist ein Restkinderwunsch? Vielleicht liegt es ja an mir. Vielleicht habe ich mein Nein nicht entschieden genug zum Ausdruck gebracht. Und dennoch: Seit ich Anfang dreissig bin, beantworte ich nun jedes Jahr bei der Gynäkologin dieselbe Frage. Und ich bin es leid.

Brachliegender Uterus
Ich bin es leid, weil die Frage nach dem Kinderwunsch in so einem Setting einfach nicht neutral ist. Sie kann gar nicht neutral gestellt werden, wo im Wartezimmer doch all die Broschüren mit pausbäckigen Bébés auf dem Cover aufliegen. Da wird sosehr geframt – kein Wunder, kommt bei mir gleich ein Rechtfertigungsdruck auf! Schliesslich ist mein Gegenüber ja Fachärztin für die Funktionen des Uterus. Und jetzt liegt mein Uterus einfach so brach und wird willentlich nicht gebraucht. Da frage ich mich schon, warum mir das BAG eine jährliche Kontrolluntersuchung bei einer Uterus-Spezialistin empfiehlt. Jedes Jahr müssen diese Uterusse auf ihre Funktionstüchtigkeit getestet werden! Meine Blase nutze ich imfall tatsächlich und dazu noch oft und ich schaue deswegen auch nicht einfach so standardmässig jährlich beim Urologen vorbei. Ja klar, die Krebsvorsorge: Die ist mir wichtig. Könnte ich aber auch bei einer Hausärztin kriegen.

Keine Reduktion auf die Gebärfunktion!
Es mutet etwas ironisch an, ausgerechnet in der Gynäkologie Verbesserungen zu fordern. Im einzigen medizinischen Fach also, das sich ausschliesslich der Frauenmedizin zuwendet. Schliesslich hat man erst gerade entdeckt, dass die Schulmedizin die Frauen über Jahrzehnte hinweg schlichtweg vergessen hat. Doch genauso wichtig finde ich, Frauen in der Gynäkologie nicht auf das Gebären zu reduzieren. Oder für Frauen, die nicht gebären möchten, einfach andere Empfehlungen herauszugeben.

«Sie wissen aber schon, dass 40 Tage zu lang sind und 21 zu kurz?», hat die Ärztin dann noch gefragt, als es um meinen Zyklus ging. Und ich so: «Zu kurz oder zu lang wofür?» Das kleine Wörtchen «zu» ist bereits eine Problematisierung der Normabweichung. Als ich dann noch flachste, dass ich dann ja eigentlich eine natürliche Verhütung hätte, reagierte sie ein wenig säuerlich. Alles, was ich mir wünsche, ist eine ganzheitliche Medizin – und Fragen abseits vom Standardfragebogen.

Es lebe meine Unfruchtbarkeit!  

Hello Hipsters

Am Bahnhof Hardbrücke steht irgendwo geschrieben: «You could cut your brain in two pieces and you still wouldn’t be open-minded.» Ich lächle in mich hinein, denn seit einer Weile dämmert mir, dass ich engstirniger bin, als ich immer dachte. Es gibt wenig Menschen, die wirklich tolerant sind – das hat die kluge Eremitin schon vor Jahren erkannt. Gleichwohl habe ich eine Faszination für alles Fremde. Eine Kollegin erzählt mir von einer Reise nach London, die sie mit ihrem marokkanischstämmigen Ehemann unternommen hat. Die Wahrnehmung einer dunkelhäutigen Person gegenüber sei dort etwas völlig anderes. Im Klartext: Hier in der Schweiz sind dunkelhäutige Personen immer noch eher selten, während in London zum ersten Mal in der Weltgeschichte mehr dunkel- als hellhäutige Menschen leben.

Ich freue mich, dass das die Richtung ist, die die Menschheit eingeschlagen hat. Aber es stellt auch grosse Herausforderungen an uns, ist es doch so viel einfacher, sich mit Gleichgesinnten zusammenzuraufen. So wie sich am Winterthurer Nachtbazar auf dem Lagerplatz die Hipster-Latte Macchiato-Fraktion zusammenfindet, die seit einiger Zeit immer zahlreicher wird, weil sie ins Reproduktionsalter gekommen ist. Die Söhne tragen kecke Schirmmützen, die Töchter Ballerinas und man ist sich nicht ganz sicher, ob hier bald ein Spot für H&M oder C&A abgedreht werden soll. «Diese Kinder sind besser angezogen als ich!», ruft die Eremitin empört. Die Latte-Macchiato-Fraktion vereint eben alternativen Lebensstil mit Modebewusstsein. Ob sie tatsächlich so tolerant ist wie sie sich gibt – darauf bin ich gespannt.

Randy the Barber

Randolph sass in seinem Korbstuhl im Garten, er hatte sich einen Sarong um die Hüften geschlungen. Oben trug er ein marineblaues Hemd. Er liess den Blick über sein Anwesen streifen, aus der Ferne drangen Tierlaute an sein Ohr. Zufrieden lächelnd schenkte er sich Whisky nach, leise klirrten die Eiswürfel im Glas. Ja, er hatte sich wirklich etwas aufgebaut mit dieser Farm. Und nun sollte ihm alles genommen werden. Morgen würden die Bulldozer auffahren.
«Randolph?» Eine asiatische Schönheit trat aus dem Haus, in ein Seidenkleid gehüllt, die langen dunklen Haare trug sie offen. Sie trat näher zu ihm heran, einige Haarsträhnen berührten leicht seine Schultern.
«Was machst du hier draussen, so ganz alleine?»
Randolph seufzte. «Ich weiss nicht. Ich sinniere.»
Er dachte an all die rauschenden Feste, die er in diesem Garten gefeiert hatte. Randolph hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, alle paar Monate eine Gartenparty zu geben, zu der regelmässig an die hundert Gäste erschienen. Hier draussen im Busch hatten seine Partys längst einen festen Platz eingenommen im sozialen Leben jener Menschen, die sich diesen verlassenen Landstrich als Kulisse für ihr Leben ausgesucht hatten.
«Ein soziales Grossereignis», murmelte er vor sich hin, Tränen traten ihm in die Augen.
Elaine schien die Geduld zu verlieren.
«Komm zurück ins Bett», schnurrte sie. Seit Randolph sich die junge Filipina ins Haus geholt hatte, war einiges in seinem Leben in Schieflage geraten. Die ursprünglichen Landbesitzer, die Ureinwohner, waren vor Gericht gegangen, um ihr Anspruch auf sein Land geltend zu machen, das er der Regierung vor einigen Jahren für einen Spottpreis abgekauft hatte. Und sie hatten Recht bekommen. Morgen würde Randolph also nicht nicht nur plötzlich ein mittelloser, fünfzigjähriger Weisser sein, sondern schlagartig auch seines sozialen Status beraubt. Denn was war ein Farmbesitzer ohne seine Farm?

Behäbig stemmte er sich aus dem Sessel, sein fülliger Leib schränkte ihn in seiner Bewegungsfreiheit ein. Barfuss schritt er über den gepflegten englischen Rasen, der in der Abenddämmerung glitzerte. Die Grashalme kitzelten ihn an den Fusssohlen. Bald würde es ganz dunkel sein. Sein Haus stand auf einer Anhöhe, rund herum war das Gelände abfallend. Bloss ein Zaun trennte ihn von den wilden Schakalen, die ihn nachts mit ihrem Geheule beinahe um den Verstand brachten. Randolph betrat die Villa, sein Papagei schaute ihn vorwurfsvoll aus dem Käfig an und krächzte laut. Lady Montgomery würde er mitnehmen in sein neues Leben, beschloss er. Die Laute des Papageis erinnerten ihn an seine etwas lang geratenen Wanderjahre, die ihn als Matrose kreuz und quer über die sieben Weltmeere geführt hatten. Er musste daran zurückdenken, wie er einst ins Leben hinausgegangen war – jung, naiv, voller Enthusiasmus und Entdeckerfreude.

Eines Tages hatte er ein paar Kleider in einen brauen Lederkoffer gepackt, das elterliche Haus ohne Abschiedsgruss verlassen und den nächsten Zug nach Triest bestiegen. Er war entschlossen, etwas von der Welt zu sehen, Erfahrungen zu sammeln, er wollte alles Neue und Fremdartige in sich aufsaugen, ja er wollte LEBEN! Die erste Ernüchterung nach seiner Ankunft in Triest liess nicht lange auf sich warten. Fremde Zungen redeten auf ihn ein, er verstand kein Wort, es war backofenglutheiss und die Gassen stanken zum Himmel. Und erst der Hafen! Der Hafen von Triest war ein Hort von Frivolitäten und Exzessen. Randolph, eben erst der Provinz entkommen, schaute ungläubig dem wilden Treiben an den Landungsbrücken zu. Waren wurden ein- und ausgeladen, exotische Tiere wie Papageien oder Schlangen standen auf dem Schwarzmarkt zum Verkauf, bärtige Matrosen versoffen ihre Heuer in nur einem Abend, Huren bezirzten die willigen Rückkehrer, die mit müden Augen und schwankendem Schritt durch die Hafengässchen wankten. Die Seefahrer schienen ein Volk von Gefallenen zu sein, und Randolph befand sich mitten unter ihnen. Klamm wurde ihm ums Herz. Sein Vater hätte ihn geradewegs enterbt, hätte er ihn unter dieser Meute gewusst. Randolph konnte sich gerade noch ein kleines, schäbiges Zimmerchen in einer heruntergekommenen Pension leisten. Durch das kleine Fenster hatte er Blick auf den Golf von Triest und den grenzenlosen Horizont. Heimweh packte ihn, Heimweh nach dem Vertrauten und dem Gefühl, die Kontrolle über sich und sein Leben zu haben. In den Kleidern legte er sich aufs Bett und fiel sofort in einen tiefen Schlummer. Die Natur forderte ihr Recht, trotz des Kummers in seinem Herzen. Besser ging es ihm erst, als er ein paar Tage darauf Heinrich kennen lernte. Heinrich war Deutscher und fuhr schon seit zwanzig Jahren zu See. Heinrich lehrte Randolph alles, was man über das Matrosenleben wissen musste.

Rein äusserlich hatte Heinrich verblüffende Ähnlichkeit mit Sindbad, dem Seefahrer: Er war bärtig im ganzen Gesicht, auf seinem muskulösen linken Oberarm prangte ein Anker, und irgendwo hatte er sich noch eine Meerjungfrau tätowiert. An welcher Körperstelle, wollte er Randolph allerdings nicht verraten, und dabei grinste er dreckig, der Goldzahn in der hinteren Reihe blitzte auf. Heinrich bestellte einen Grog nach dem anderen und stellte sie Randolph vor die Nase.
«Richtige Seefahrer trinken Grog!», polterte er. Heinrich hatte offenbar einen gewissen Ehrgeiz entwickelt. Einen Ehrgeiz, den ihn, Randolph, betraf. Aus irgendeinem Grund sah er es als seinen persönlichen, inneren Auftrag an, aus Randolph den besten Matrosen aller Zeiten zu machen.

«Lektion eins», sagte Heinrich, «betrifft die Weiber».
Randolphs Augen weiteten sich. «Unsereins hat da viel gelernt von den Indianern. Drüben, auf dem anderen Kontinent.»
Randolph nickte wie ein beflissener Schüler. «Bist du neu auf dem Gebiet des Weiberns», Heinrich machte eine kunstvolle Pause, «und das bist du, das sehe ich dir an», und er fuhr fort: «verbringst du deine erste Liebesnacht mit einer Frau mittleren Alters.» Randolph musste an seine Mutter denken, schnell verscheuchte er den Gedanken wie eine lästige Fliege. «Die alten Weiber, die können dir einheizen, das kann ich dir sagen!», Heinrich geriet ins Schwärmen. «In nur einer Nacht bringen die dir alles bei, was du über das Liebemachen wissen musst. Lass die paar Falten Falten sein, das sind die besten Lehrerinnen.» Randolph nickte. «Die zweite Nacht», fuhr Heinrich fort, «verbringst du mit einem Mann.» Randolph schluckte leer.
«Mit einem Mann? Aber…»
«Ich weiss schon, was du sagen willst», unterbrach ihn Heinrich. «Dass du kein Schwanzlutscher bist, nicht wahr», und er lachte aus vollem Hals sein Bärentöterlachen. «Unsereins hat genauso gedacht. Doch darum geht es nicht. Du musst wissen, wie sich ein Mann anfühlt. Nur so kannst du wissen, wie es für die Frau ist. Verstehst du, du musst versuchen, dich in die Weibsdinger einzufühlen, nur so holst du den Anker ein.» Heinrich stutzte. «Du weisst doch, was ich meine, wenn ich sage, den Anker einholen?» Randolph wollte sich vor Heinrich nicht blamieren. «Padääm, du weisst schon, das Schiff klarmachen, die Segel hissen …» – «Ja, ja, ich weiss schon», murmelte Randolph.
«Die dritte Nacht und letzte Nacht», sagte Heinrich in feierlichem Ton, «verbringst du mit einer jungen, bildschönen Frau.»

Randolph lächelte in der Erinnerung an Heinrich, während er ein Feuer im Kamin entfachte. Der Gedanke munterte ihn auf. Was für ein derber Seebär Heinrich gewesen war! Manchmal dachte Randolph voller Wehmut, dass seine Seefahrerzeit doch die beste Zeit seines Lebens gewesen war. Die Holzscheite rauchten, Flammen züngelten. Randolph setzte sich in den Schaukelstuhl vor dem Kamin und schaute in die Flammen, das Feuer loderte, der Tigerkopf zu seinen Füssen blickte ihn aus glasigen Augen an. An alle Ratschläge vom guten alten Heinrich hatte er sich nicht gehalten, ein guter Matrose war er trotzdem geworden. Doch wenn Heinrich wüsste, dass Randolph nun sesshaft geworden war! Er würde sich im Grab umdrehen, schliesslich war Randolph überzeugt, dass Heinrich inzwischen von den Haien gefressen oder von den Indianern enthauptet worden war. Unter Matrosen galt nur ein gewaltsamer Tod als ehrenhaft. Die grösste aller Sünden war aber, sich irgendwo niederzulassen und sogar Herr über Ländereien zu sein so wie Randolph. Aber wer hätte auch ahnen können, dass er mit dem Verkaufen von Staubsaugern ein Vermögen anhäufen würde.

Als Staubsaugerverkäufer war Randolph geschäftlich in der ganzen Welt unterwegs gewesen. Irgendwann hatte er eine Vorliebe für vornehme Hotels entwickelt. In jeder Stadt suchte er instinktiv die exklusivste Adresse auf. Die livrierten Kellner und die Wohlgerüche gaben ihm immer das Gefühl, zwei Zentimeter über dem Boden zu schweben. Zudem war er für Ästhetik schon immer sehr empfänglich gewesen. Hotellobbys bedienten seiner Meinung nach diesen – seinen – Sinn für die Wohlgestalt der Dinge. Kurz gesagt: Randolph mochte es geschmackvoll. Ganze Nachmittage konnte er damit zubringen, in der Lobby zu sitzen, Kaffee zu trinken und Zeitung zu lesen. Und abends nach dem Eindunkeln wechselte er nahtlos über in die Bar. An Hotelkomplexen schätzte er vor allem, dass er nie weit zu gehen brauchte bis zur nächsten Sinnesfreude. Meistens schloss er in Windeseile Freundschaft mit dem Kneipenwirt und wusste bald Bescheid über Anzahl und Namen dessen Kinder, Erfolg oder Misserfolg ihrer Schulkarrieren und den Zustand seiner Ehe. Randolph war ein geselliger Mensch, der überall, wo er war, sofort Leute um sich scharte. Mit seinem wilden Sinn für Humor hatte er etwas Gewinnendes an sich, zudem strahlte er etwas Freigebiges, Grossherziges aus. Diesen Eindruck wurde nicht selten dadurch bestätigt, dass er komplett unbekannten Menschen Drinks bezahlte. Ja, in der Tat: Randolph wusste, wie man es krachen liess. So war es auch an jenem Abend gewesen, als Elaine in sein Leben trat.

Die dunkelhaarige Schönheit war ihm sofort aufgefallen, als sie in der schummrigen Hotelbar in der Ecke sass und an einem Sektkelch nippte. Randolph hatte bereits ordentlich getrunken und befand sich in jenem gefährlichen Zustand, in dem er, selbst wenn er sich anstrengte, nicht mehr genau sagen konnte, in welcher Stadt er sich gerade befand. Hongkong, Saigon oder war es doch Manila gewesen? Die Schönheit dieser Asiatin betörte ihn, sodass er auf der Stelle nüchtern wurde. So erging es ihm jedes Mal, wenn ihm eine Frau wirklich gefiel. Er gab sich innerlich einen Schubser und näherte sich der zierlichen Frau. Irgendwie gelang es ihm, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Elaine schien mässig interessiert, und Randolph begann zu schwitzen. Doch so schnell wollte er sich nicht geschlagen geben. Er bezahlte ihr Cocktail um Cocktail, in seiner Erinnerung trank sie sich durch sämtliche Farben des Regenbogens. So zum Affen hatte er sich schon lange nicht mehr gemacht für eine Frau! Doch es war ihm gleichgültig. Diese unnahbare Aura, mit der sich die Asiatin umgab, machte sie für Randolph nur noch begehrenswerter. Sein Jagdinstinkt war geweckt.

Irgendwann begannen sie sich zu küssen, zuerst zärtlich und dann immer leidenschaftlicher. Die Lippen der Asiatin schmeckten nach Erdnüsschen und Mandarinchen, eine ganz eigenartige Kombination, die ihn bis heute an diese erste Nacht mit Elaine erinnerte. Elaine war eine sehr sanfte Liebhaberin, ihr zarter, filigraner Körper umschlang den seinen mit viel Zartheit und gleichzeitig mit dem richtigen Mass an Druck. Ihre Haut war butterweich und schimmerte seiden, die sachte Berührung ihrer Haarspitzen auf seiner nackten Haut verursachte ihm Gänsehaut. Elaine war eine ausdauernde Liebhaberin, sie umschloss seine Härte mit ihrem Mund und liess ihre Zungenspitze kreisen, nur um kurz vor dem Höhepunkt von ihm abzulassen. Einmal. Zweimal. Zehnmal. Randolph war wie von Sinnen. Der Genuss dauerte die ganze Nacht und ergoss sich irgendwann gegen Morgengrauen in einen ekstatischen Höhepunkt. Randolph hatte nie ganz verstanden, warum die Natur es so angelegt hatte, dass der Höhepunkt auch gleichzeitig immer der Schlusspunkt war.

Etwas endete, und etwas Neues begann. Elaine sah im erbarmungslosen Licht des anbrechenden Tages kein bisschen weniger bezaubernd aus. Ihre Nacktheit war nur durch ein blütenweisses Bettlaken verhüllt. Trotzdem schien sie von der ganzen «Morgen-danach-Situation» völlig unbeeindruckt zu sein. Randolph schob den Gedanken, dass sie wirkte, als wäre das nicht ihre erste Nacht in einem fremden Fünfsternebett gewesen, weit von sich.
«Woher kommst du?», fragte er, im Bemühen, etwas mehr über sie zu erfahren als ihren Namen.
«Ist das so wichtig?», gab sie zurück.
«Bist du fremd hier in der Stadt?», versuchte er es weiter. Inzwischen war ihm auch wieder eingefallen, dass er sich in Saigon befand.
«Und als nächstes fragst du mich, ob ich dir die Stadt zeige?» Elaine zerwühlte ihm die Haare, stand auf und machte sich auf den Weg ins Bad. Ihr kleiner Hintern schwenkte beim Gehen hin und her. In diesem Moment wusste Randolph, dass er dieser Frau verfallen war.

Später – Elaine wachste wohl gerade ihre Beine oder war mit anderen Geheimnissen der weiblichen Schönheitspflege beschäftigt – versuchte Randolph krampfhaft, sich auf die Verhandlung mit einem wichtigen vietnamesischen Geschäftspartner zu konzentrieren. Sie sassen in der Hotellobby über Akten gebeugt, als eine Berührung am Arm bemerkte. Elaine stand vor ihm, in ein schwarzes, ziemlich knappes Kleid gehüllt, den Schmollmund mit einem pflaumenfarbenen Lippenstift geschminkt, und schaute ihn vielsagend an. Randolphs Herz setzte einen Takt lang aus. Die Höflichkeit erforderte natürlich, dass er die fremde Frau mit seinen Geschäftspartnern bekannt machte. Und weil alles andere in einem solchen Kontext unangemessen, um nicht zu sagen unmoralisch gewesen wäre, sah Randolph sich gezwungen, Elaine kurzerhand als seine Ehefrau vorzustellen. Elaine schien zufrieden und streckte den Herren lächelnd die Hand hin.

Randolph war nie verheiratet gewesen. Und das lag nicht nur daran, dass er nie die richtige Frau getroffen hatte. Randolph glaube nicht an die Ehe. Er hielt sie für etwas für Schwächlinge, die mit der Einsamkeit nicht umgehen konnten. Eine Ehe war für ihn eine Rettungsweste, auf die er nicht angewiesen war. Schliesslich konnte er schwimmen. Darüber dachte er jetzt nach, während er auf dem Rücksitz eines gelben Taxis durch die Nacht brauste. Randolph liebte es, in der Dunkelheit der Nacht durch Millionenmetropolen zu brausen. Wenn er nicht schlafen konnte, liess er sich manchmal stundenlang herumfahren. Einzutauchen in den Sog einer Stadt, die blinkenden Leuchtreklamen vorbeischnellen zu sehen, am besten zu den dröhnenden Beats einer fremden Welt aus dem Autoradio.

Heute Nacht allerdings kurvte er nicht aus Schlaflosigkeit kreuz und quer durch Saigon, sondern aus einem Fluchtbedürfnis heraus. Seine neue «Frau» Elaine wartete im Hotel auf ihn, wollte sich von ihm zum Sushi-Essen ausführen lassen. Es wurde spät, doch Randolph konnte sich einfach nicht dazu überwinden, zu ihr ins Hotel zurückzufahren. Er fühlte sich dieser plötzlichen Zweisamkeit nicht gewachsen. Ihre Art, ihn zu vereinnahmen wie Land, das sie zu besetzen fest entschlossen war, versetzte ihn in Panik. Sie Kolumbus. Er Amerika. Und doch war er zu schwach, sie daran zu hindern, dass sie ihre Flagge ins Sediment rammte. Es war der fünfte Tag seit ihrer Begegnung und seine Rastlosigkeit hatte ihren Höhepunkt erreicht. Seine Nerven waren zum Bersten gespannt. Er betrachtete die Bilder, mit denen der Taxifahrer den Innenraum seines Autos ausgeschmückt hatte. Bilder, von denen er glaubte, dass sie Teheran zeigten. Randolph beschloss, dass er schon immer mal in den Iran gewollt hatte.

Bei seiner Ankunft in Teheran empfing Randolph ein wolkenverhangener Himmel, es regnete in Strömen. Er kultivierte eine Mini-Depression. Beim Gepäckband musterte ihn ein anderer Fluggast mit Bart und Lederjacke so eindringlich, dass Randolph sich unbehaglich zu fühlen begann. Er überlegte, wie er zu erkennen geben konnte, dass er in freundlicher Absicht gekommen war. Schliesslich nahm er sein Büchlein mit Gandhi-Zitaten hervor, das er für solche Notfälle immer dabei hatte, und tat so, als würde er darin lesen. Er hoffte, dass Gandhi auch im Iran ein Begriff war. Der Bärtige mit den dunklen Augen nahm seinen Koffer vom Band und trat näher an Randolph heran.
«Müssen Sie in die Innenstadt? Mein Bruder wartet draussen, um mich abzuholen. Sie können mitfahren.»

Sein neuer iranischer Freund Agmal und sein Bruder schlugen noch einen kleinen Abstecher auf eine Party vor. Randolph erklärte sich einverstanden, schliesslich hatte er keine Pläne.
«Wir nehmen dich mit an eine sehr iranische Party», sagte Agmal und lachte. Das Haus sah von aussen unbewohnt aus. Kein Licht brannte, kein einziges Auto stand vor dem Haus. Sobald sie ausgestiegen waren, trat der Bruder aufs Gaspedal und fort war er. Randolph wurde es unbehaglich zumute. Agmal führte Randolph ums Haus herum und dort durch den Hintereingang in den Keller. Als sie den feuchten Kellerraum betraten, staunte Randolph nicht schlecht: Er war in eine illegale Pokerrunde geraten, an langen Tischen sassen stark geschminkte Frauen und zockten um die Wette. Die modischen Kopftücher waren im Eifer des Spiels nach hinten gerutscht und offenbarten einzelne Haarsträhnen. Auch einige Männer sassen am Tisch, andere standen im Kreis und tranken Hochprozentiges. Sein Gastgeber führte ihn zu der kleinen improvisierten Bar und schenkte ihm Whisky ein.
«Es gibt in diesem Land nur noch etwas, das sündhafter ist als Frauen und Alkohol», sagte er. «Glücksspiele.» Agmal grinste und trat zu einem der Tische. «Poker ist die Lieblingsbeschäftigung iranischer Frauen.» Randolph blickte in die Runde. Vier junge Perserinnen schauten ihn aus grossen mandelförmigen Augen an. In der Mitte häufte sich bereits ein Berg Dollarnoten. Sie forderten ihn zum Mitspielen auf. Da Randolph kein Bargeld für den Mindesteinsatz auf sich trug, zog er hilflos sein zerfleddertes Gandhi-Exemplar aus der Jackentasche. Ein Raunen ging durch die Runde. «Hast du noch mehr Bücher dabei?», bestürmten die Frauen ihn aufgebracht. Eine packte ihn sogar am Kragen. Schützend hielt Randolph seine Hände vors Gesicht.
«Nein, nichts mehr. Nichts mehr.» Als die Karten ausgeteilt wurde, wichen Spass und Ausgelassenheit einem plötzlichen Ernst. Randolph verlor sein Gandhi-Exemplar in der ersten Runde.

Er ging an die Bar, um sich etwas zu trinken zu holen. Eine junge Iranerin mit einem blumenbedruckten Kopftuch setzte sich neben ihn und zog eine Zigarre aus der winzigen Handtasche.
«Jeder Frau ihre Romeo & Juliet», sagte sie und machte sich daran, die Zigarre zu entzünden. Sie schmauchte genussvoll und taxierte ihn dabei eindringlich mit ihrem Blick. «Du bist mit Agmal hier, nicht wahr?» Randolph bejahte. «Wir haben uns vor einer Stunde am Flughafen kennengelernt.»
«Nimm dich in Acht, es gibt immer wieder Razzien bei solchen illegalen Versammlungen», sagte sie und pustete den Rauch in die Luft. «Ausländer sind nicht überall gern gesehen.» Randolph wurde es mulmig. Er beschloss, dass es vielleicht besser war, zu verduften. Als er vom Barhocker rutschte, schaute er geradewegs in den Lauf einer Pistole.

Randolph schüttelte ungläubig den Kopf, während er das Tigerfell mit dem Fuss streichelte. Manchmal konnte er heute noch nicht glauben, dass er das tatsächlich erlebt hatte. Diese Geschichte hatte Potential, er stellte sich vor, wie er sie in kalten afrikanischen Winternächten seinen Enkeln erzählen würde. Elaine hingegen hasste die Geschichte. Sie glaubte, er wollte ihr damit weh tun, schliesslich war er damals wegen ihr in den Iran geflüchtet. Er seufzte. Ja tatsächlich, damals war er wirklich mit einem blauen Auge davongekommen.

Sie hatten ihn auf den Polizeiposten gezerrt und ihn vier Stunden lang verhört. Doch weil ihm keine aufrührerischen Absichten nachgewiesen werden konnten, liessen sie ihn laufen, mit der Auflage, das Land innerhalb der nächsten 24 Stunden zu verlassen. Das erste Flugzeug, das er erwischen konnte, ging nach Dar es Salaam. Tansania – warum nicht? Er wollte einfach nur weg. Mit angespannten Nerven nahm er seinen Sitzplatz ein und wartete, bis die Maschine endlich auf die Startbahn rollte. Eine Frau mit schulterlangen Haaren tauchte in seiner Reihe auf.
«Hier sitzt Thaddäus Mistletoe», sagte sie und deutete auf den Sitz in der Mitte. «Ich nehme immer den Gangplatz.» Und schon wuchtete sie einen weissen Cellokoffer auf den Sitz zwischen ihnen. «Der Sitz ist bezahlt», sagte die Cellistin und zwinkerte ihm zu.

Randolph lauschte auf das verlässliche Brummen der Triebwerke, er schaute aus dem Fenster aufs Wolkenmeer, auf dem Sitz neben sich ein mannshohes Cello mit einem sonderbaren Namen. Die Cellistin schlief mit offenem Mund. Er kam sich idiotisch vor. Als das Essen serviert wurde, war die Cellistin wieder munter.
«Wissen sie», sagte sie mit gerecktem Hals, um Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, «ich muss dem Cello immer einen Namen geben.» Sie unterhielten sich über das Instrument hinweg. «Die brauchen einen fürs System.» Vielleicht war die Frau doch nicht so durchgeknallt, wie er anfangs befürchtet hatte.
«Ich habe nie verstanden, warum ein Cello so gross sein muss», brummte Randolph, während er ein Stück Poulet kaute.
«Sei froh, dass ich nicht Harfe spiele», gab die Cellistin zurück. Als der Pilot durch die Lautsprecher den Landeanflug auf den Flughafen von Dar es Salaam ankündigte, sass Randolph auf dem Mitteplatz und unterhielt sich angeregt mit der Cellistin. Grosszügig wie er war, hatte er Thaddäus Mistletoe den Fensterplatz überlassen.

Und so hatte er den Boden Tansanias zum ersten Mal betreten, mit einer Konzertcellistin und einem Cello namens Thaddäus Mistletoe im Schlepptau. «Mother Africa», jauchzte Barbara, kniete sich runter und küsste den Boden. Okay, vielleicht war die Cellistin doch etwas durchgeknallt. Das Gute an der Bekanntschaft mit Barbara war, dass sie hier jeden kannte. Und sie verlor keine Zeit, ihm alle einflussreichen Leute vorzustellen. Gleich am ersten Abend nahm sie ihn mit in den Klub, der nur Mitgliedern Eintritt gewährte. Barbara hatte sich für diesen Abend herausgeputzt, sie trug ein grünes enganliegendes Kleid mit Seitenschlitz. «Weisst du, Randolph, manchmal bin ich etwas einsam», vertraute sie ihm an. Aus einem Grund, den er selber nicht kannte, begann er Barbara von der jungen Filipina zu erzählen, die er brüsk in Saigon zurückgelassen hatte.
«Du musst sie heiraten», lallte Barbara, und hängte sich an Randolph. Den letzten Gin Tonic hätte sie nicht mehr trinken sollen. Sie weinte jetzt fast, zog ihn am Arm. «Du musst … sie… heiraten.» Sie hielt ihr Gesicht dicht an seins, ihr schlechter Alkoholatem in seinem Gesicht. «Du liebst sie doch», sagte sie fast trotzig. Ohne Vorwarnung begann sie zu schluchzen: «Ich wünschte, es gäbe einen Mann in meinem Leben, mit dem ich einen Weihnachtsbaum kaufen kann. Kein Auto, keine Kinder, kein Haus, nur einen gemeinsamen Weihnachtsbaum!», und dann legte sie sich hin und war Sekunden später auch schon in einen tiefen Schlummer gefallen. Barbara sägte auf dem Teppich des Klubs wie ein bärtiger Waldschrat.

Ob Barbara wohl einen Mann gefunden hatte, mit dem sie einen Weihnachtsbaum kaufen konnte?, grübelte Randolph. Es kam ihm vor, als würde es bereits Jahrzehnte zurückliegen, seit er nach Tansania gekommen war. Im gleichen Klub hatte er einen Bekannten von Barbara, einen Staatsangestellten, kennengelernt, der ihm die Farm zusammen mit den umliegenden Ländereien verkauft hatte. Randolph seufzte. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass er in kalten Winternächten nie mit seinen Enkeln um dieses Kaminfeuer sitzen und ihnen all die verrückten Geschichten seines Lebens erzählen würde. Er hielt inne.
«Elaine?» Es war plötzlich seltsam still im Haus. «Elaine?» Er stand auf und ging ins gemeinsame Schlafzimmer. Die weissen Bettlaken waren zerwühlt, Elaines Seidenkleid lag auf dem Boden. Das Zimmer war leer. Elaine war weg.

Der gelb-grüne Papagei im Schaufenster des kleinen Barbiergeschäfts krächzte ununterbrochen einen englischen Namen. Es hörte sich an wie «Lane.»
«Halt den Schnabel, Lady Montgomery!», tönte es energisch aus dem Laden. Ein Mann mit strähnigem langem Haar hantierte darin mit Schere und Kamm an der Haarpracht eines Kunden herum. Heute war viel Betrieb, schliesslich wollte sich jeder für das Weihnachtsfest herausputzen. Weihnachten wurde auf Goa gross gefeiert. Für die Festlichkeiten mussten Bärte gestutzt, Brauen gezupft und Haaröl aufgetragen werden. Der Duft von Seifenlauge lag in der Luft.
«Sie haben aber einen schönen Weihnachtsbaum hier im Laden», bemerkte eine Kundin anerkennend, die unter der Trockenhaube eine Zigarette rauchte. Der Barbier lächelte zufrieden. «Randy the Barber», stand in bunten Lettern an der Aussenfassade des kleinen Geschäfts.