
Bin ich leichte Beute?
In letzter Zeit passieren mir echt die merkwürdigsten Dinge. Anfang des Sommers hat mich ein Mann in Businesskleidung in der Löwenstrasse angesprochen: Er komme aus Indien und sei Auraleser. Ich hätte eine auffallend lebendige Aura, und ohne weiteres Nachfragen von meiner Seite ging es los: Ich würde meinen Job mögen, doch seit einiger Zeit hätte ich ein Projekt im Hinterkopf, das auf seine Verwirklichung warte. Er sagte noch ein paar andere Dinge. Ich hörte halb misstrauisch, halb interessiert zu. Irgendwann fragte er nach meinem Namen – und ich spürte instinktiv: Jetzt ist es Zeit zu verduften. Verriete ich ihm meinen Namen, wäre er psychologisch im Vorteil – und diese Macht wollte ich ihm nicht zugestehen. Ich hatte keine Angst vor ihm – ich fand es einfach interessant, mich zu fragen, ob ich ihm vertraute und mich von aussen beim Abwägen zu beobachten. Schliesslich bin ich schon so viel gereist in meinem Leben, da sollte mein Vertrauensmuskel schon etwas trainiert sein. Gerade als alleinreisende Frau wird die Frage, ob man jemandem vertraut, sehr schnell existenziell. Ich weiss nicht, ob Männer das überhaupt verstehen. Doch als Frau gelesen zu werden, bedeutet in fast allen Teilen der Welt, in der schwächeren Position zu sein.
Nun denn – gestern wurde ich am See von einer jungen Frau angesprochen. Sie habe mit ihren Freunden eine Challenge am laufen: Sie würden Briefe schreiben und diese dann an Fremde verteilen. Ich meinte gleich, als Frau des Wortes würde ich natürlich sehr gern einen Brief einer Unbekannten erhalten! Wir kamen nett ins Gespräch. Bei ihr zweifelte ich interessanterweise nicht im Geringsten an ihrer Aufrichtigkeit. Bis ich dann nach Hause kam und die Begegnung meinem Liebsten schilderte. «Die ist doch von Scientology!», meinte er, der die Welt offensichtlich aus ganz anderen Augen betrachtet als ich. Seither hat sich der Zweifel verhakt: Bin ich einer Sektenfängerin auf den Leim gekrochen? Das einzige Mal, als ich leicht stutzte, war, als sie in ihren Beutel griff und dann entschuldigend meinte, sie sei zu hastig aus dem Haus gegangen und hätte den Brief nicht mitgenommen. Geht man mit der Absicht aus dem Haus, jemanden für eine Mutprobe anzusprechen ohne sich zu vergewissern, den Brief dabei zu haben?
Entpuppen sich ihre Freunde als Mitglieder einer Sekte? Die Challenge als Befehl von oben? Etwas mulmig wird mir schon, wenn ich an unser Gespräch zurückdenke. Denn nun fällt mir auf, dass wir ziemlich schnell über Religion sprachen. Sie erwähnte beiläufig, sie sei in einem religiösen Haushalt aufgewachsen und würde nun, mit 25, gewisse Glaubenssätze hinterfragen. Ich erzählte ihr, dass ich als Redaktorin für ein Mitgliedermagazin der reformierten Kirche arbeite. Und schob gleich hinterher, dass ich nicht über religiöse Inhalte schreiben würde. Ob ich denn einmal reingeschaut hätte, in die Bibel? Daraufhin meinte ich spontan: «Schon – aber es gibt bessere Bücher!»
Sie versprach, mir den Brief zuzustellen und ich gab ihr leutselig meine Postadresse.
Nun frage ich mich die ganze Zeit: Was zum Kuckuck steht in diesem Brief?
Ich las sie als junge Frau der Gen Z, die vieles ausprobieren möchte – unter anderem so etwas altmodisches wie einen Brief mit Stift und Papier zu schreiben. Doch wegen der saloppen Bemerkung meines Liebsten zweifle ich nun an meiner Menschenkenntnis. Warum hat mein Frühwarnsystem so gar nicht ausgeschlagen? Bin ich für Menschen mit Hintergedanken leichte Beute? Der indische Auraleser hat mir noch den 21. Oktober als meinen Glückstag prophezeit. Vielleicht wird er ja meinen Eintritt in eine Sekte markieren. Dann halten wir uns an den Händen und singen gemeinsam das Lied von Patent Ochsner: «Uf all diä wo e grosses Herz hend und sich das nid löhnd lah näh.»