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Autor: Nicole Imboden

Kugelbomben und Kaffee. Fünfzig Amazonen-Geschichten

Lockenkopf, die Eremitin, Kaktusblüte und die Römerin: Das sind die besten Freundinnen der Journalistin und Autorin Edith Truninger. In diesem Kolumnenband nähert sie sich dem Leben der vier Charakteren, ihren Macken und jenen Eigenschaften, die sie unverwechselbar machen.
Egal, ob es dabei um Liebe, Freundschaft oder Frausein geht, der Blick der Kolumnistin ist immer von zärtlicher Ironie geprägt.

Erzählungen
2010
Taschenbuch, 113 Seiten
CHF 10.–
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Die Kugelbomben als E-Book

Stimmen zum Buch:

Eine Hymne an die Freundschaft. (Tink.ch)
So wie eine Praline auf der Zunge zergeht. (Frauenleben)
Ein bisschen von Carrie Bradshaw aus «Sex and the City». (Der Landbote)

Hibiskus Corner

Die aus Südafrika stammende Rosaly hat ihr Studium abgebrochen und verdient nun ihren Lebensunterhalt als Eisverkäuferin am Flughafen in Zürich. Tagein tagaus spielen sich vor ihren Augen kleine Abschiedstragödien, aber auch glückliche Wiedersehen ab. Sie liebt es, von ihrem Platz hinter dem Eiscremewagen all die Menschen zu beobachten, die sich auf Reisen begeben. Dabei macht sie sich Gedanken über ihr eigenes Leben und erinnert sich immer wieder an ihre Großmutter Rose, die ihr das alte Familienrezept für das Hibiskuseis verraten hat. Rosaly spürt, dass auch sie eine Reisende ist – eine Reisende zwischen ihrer alten und ihrer neuen Heimat. Mit Südafrika verbinden sie Erinnerungen, die – wie sie selbst zugeben muss – «in meiner Hand augenblicklich zu Staub zerfallen würden».

Novelle
2013
Taschenbuch, 180 Seiten
CHF 14.–

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Stimmen zum Buch

Ideales Reisebuch
Mir hat die Mischung aus Leichtigkeit und philosophischen Gedanken gefallen und der klare, immer gleiche Schauplatz der Geschichte. Ausserdem liebe ich Flughäfen, ein ideales Reisebuch.
Eine Geschichte über das Verbundensein
Edita Truninger bevölkert ihre Novelle mit realitätstreuen, liebenswürdigen Figuren und beschreibt diese in einer erfrischenden, modernen Sprache. Hibiskus Corner ist eine Geschichte über Sehnsucht und Hoffnung, über Freundschaften und Träume und über das Verbundensein – nicht nur mit der Heimat, sondern auch mit sich selbst.

Ein Augenblick im Wind

Nach ihrer Ausbildung als Schriftenmalerin entflieht die junge Schweizerin Alba nach Kairo, um in dieser pulsierenden Metropole einen Sprachkurs zu belegen. Fasziniert vom Land und von den Menschen, entschliesst sie zu bleiben. Dabei lernt sie den englischen BBC-Reporter Eric kennen. Eine leidenschaftliche Liebesgeschichte entwickelt sich zwischen den beiden. Gemeinsam geraten sie in den Strudel der folgenschweren Umwälzungen, die Ägypten erfassen. Doch bald muss Alba enttäuscht feststellen, dass Beziehungen zerbrechen – in jeder Hinsicht – und der Arabische Frühling nur ein Augenblick im Wind war.

Roman
2017
Taschenbuch, 200 Seiten
Leseprobe als PDF

Vergriffen, keine Neuerscheinung geplant

Stimmen über das Buch:

Ein Mix aus Roman und Thriller
Truningers Buch «Ein Augenblick im Wind» gefiel mir sehr gut. Mit einem Mix aus Roman und Thriller gelingt der Autorin durchgängige Spannung, die einem fast nicht mehr loslässt. Meisterhaft, wie sie mit wenigen Worten lebendige und farbige Bilder skizziert. Nebenbei evoziert sie noch neurale Gerüche aus den engen historischen Bazars, Kaffeestuben und quallvollen Stuben für die Wasserpfeifenraucher. Mit beinahe asketischer Wortknappheit gelingt ihr die Fiktion eines prallgefüllten Raumes. Setzung treffender Adjektive immer massvoll, nie überflüssig, nie schwülstig. Konsequent vermeidet sie bei Nebensätzen sperrige Partikel wie zum Beispiel «weil», «dass», «oder». Wo ein Punkt den Rhythmus pfählt, plätschert hier ein leichter Wortfluss ins Geschehen runter. Der Text ist logisch aufgebaut und erreicht den Höhepunkt mit dem ägyptischen Frühling 2011 beim Tahrirplatz in Kairo. Szenenwechsel sind als Kapitel markiert. Insgesamt ist der Textinhalt gut temperiert mit klarer Stilkontinuität. Das Buch habe ich bis zuletzt mit Spannung gelesen. Nebenbei erfährt man einiges über Leben, Kultur und Geschichte Ägyptens. Über einzigartige Gegenden wie die Siwa Wüste mit ihren paradiesischen Oasen, über das Marsa Matruh Sandmeer, aber auch über das schreckliche Katara Gefängnis inmitten der Westwüste von Ägypten. Eine Bereicherung ist zusätzlich das ägyptische Glossar mit Übersetzung in die deutsche Sprache.

Auf weiblichem Terrain – Pflegefachmänner im Porträt

Das Buch porträtiert Männer zwischen 23 und 65 Jahren, die in Pflegeberufen in unterschiedlichen Gebieten wie Altersheim, Akutklinik, häusliche Pflege, Spitex und Psychiatrie arbeiten und den Leser:innen Einblick in ihre Biografie gewähren. Frei von der Leber weg erzählen die Protagonisten, was den Anstoss für ihre Berufswahl gegeben hat. Wurden sie vom Umfeld oder durch persönliche Erfahrungen darauf aufmerksam? Welche Hemmschwellen galt es, im Berufswahlprozess zu überwinden? Was denken sie über ihre Rolle als Exoten in weiblich dominierten Teams? Zu welchem Zeitpunkt haben sie damit begonnen, vorherrschende Normen von Geschlechteridentitäten zu hinterfragen? Und was hat das mit ihrem eigenen Männlichkeitsbild gemacht?
Angereichert werden die Porträts durch fünf persönlich gefärbte Essays von Exponent:innen des Schweizer Gesundheitswesens, die sich schon lange mit dem Pflegeberuf befassen. Zu Wort kommen darin z.B. eine Pflegehistorikerin, eine Genderforscherin oder eine Vertreterin des SBK mit einer Würdigung der verstorbenen Pflegepionierin Liliane Juchli. Neben den Porträts männlicher Protagonisten werden auch Frauen in die Reflexionen über Männer in der Pflege mit einbezogen. Wie verändert sich das Bild der Pflege, wenn der Anteil der Männer steigt? Was geschieht mit den Gehältern? Hat die Akademisierung dem Berufsstand die gewünschte Aufwertung gebracht? Die Essays rahmen die persönlichen Geschichten und liefern den gesellschaftlichen Bezugsrahmen, vor dem sich die Erlebnisse der Porträtierten ereignet haben.

Hogrefe Verlag
2021
Taschenbuch
136 Seiten
CHF 29.90

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Randy the Barber

Randolph sass in seinem Korbstuhl im Garten, er hatte sich einen Sarong um die Hüften geschlungen. Oben trug er ein marineblaues Hemd. Er liess den Blick über sein Anwesen streifen, aus der Ferne drangen Tierlaute an sein Ohr. Zufrieden lächelnd schenkte er sich Whisky nach, leise klirrten die Eiswürfel im Glas. Ja, er hatte sich wirklich etwas aufgebaut mit dieser Farm. Und nun sollte ihm alles genommen werden. Morgen würden die Bulldozer auffahren.
«Randolph?» Eine asiatische Schönheit trat aus dem Haus, in ein Seidenkleid gehüllt, die langen dunklen Haare trug sie offen. Sie trat näher zu ihm heran, einige Haarsträhnen berührten leicht seine Schultern.
«Was machst du hier draussen, so ganz alleine?»
Randolph seufzte. «Ich weiss nicht. Ich sinniere.»
Er dachte an all die rauschenden Feste, die er in diesem Garten gefeiert hatte. Randolph hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, alle paar Monate eine Gartenparty zu geben, zu der regelmässig an die hundert Gäste erschienen. Hier draussen im Busch hatten seine Partys längst einen festen Platz eingenommen im sozialen Leben jener Menschen, die sich diesen verlassenen Landstrich als Kulisse für ihr Leben ausgesucht hatten.
«Ein soziales Grossereignis», murmelte er vor sich hin, Tränen traten ihm in die Augen.
Elaine schien die Geduld zu verlieren.
«Komm zurück ins Bett», schnurrte sie. Seit Randolph sich die junge Filipina ins Haus geholt hatte, war einiges in seinem Leben in Schieflage geraten. Die ursprünglichen Landbesitzer, die Ureinwohner, waren vor Gericht gegangen, um ihr Anspruch auf sein Land geltend zu machen, das er der Regierung vor einigen Jahren für einen Spottpreis abgekauft hatte. Und sie hatten Recht bekommen. Morgen würde Randolph also nicht nicht nur plötzlich ein mittelloser, fünfzigjähriger Weisser sein, sondern schlagartig auch seines sozialen Status beraubt. Denn was war ein Farmbesitzer ohne seine Farm?

Behäbig stemmte er sich aus dem Sessel, sein fülliger Leib schränkte ihn in seiner Bewegungsfreiheit ein. Barfuss schritt er über den gepflegten englischen Rasen, der in der Abenddämmerung glitzerte. Die Grashalme kitzelten ihn an den Fusssohlen. Bald würde es ganz dunkel sein. Sein Haus stand auf einer Anhöhe, rund herum war das Gelände abfallend. Bloss ein Zaun trennte ihn von den wilden Schakalen, die ihn nachts mit ihrem Geheule beinahe um den Verstand brachten. Randolph betrat die Villa, sein Papagei schaute ihn vorwurfsvoll aus dem Käfig an und krächzte laut. Lady Montgomery würde er mitnehmen in sein neues Leben, beschloss er. Die Laute des Papageis erinnerten ihn an seine etwas lang geratenen Wanderjahre, die ihn als Matrose kreuz und quer über die sieben Weltmeere geführt hatten. Er musste daran zurückdenken, wie er einst ins Leben hinausgegangen war – jung, naiv, voller Enthusiasmus und Entdeckerfreude.

Eines Tages hatte er ein paar Kleider in einen brauen Lederkoffer gepackt, das elterliche Haus ohne Abschiedsgruss verlassen und den nächsten Zug nach Triest bestiegen. Er war entschlossen, etwas von der Welt zu sehen, Erfahrungen zu sammeln, er wollte alles Neue und Fremdartige in sich aufsaugen, ja er wollte LEBEN! Die erste Ernüchterung nach seiner Ankunft in Triest liess nicht lange auf sich warten. Fremde Zungen redeten auf ihn ein, er verstand kein Wort, es war backofenglutheiss und die Gassen stanken zum Himmel. Und erst der Hafen! Der Hafen von Triest war ein Hort von Frivolitäten und Exzessen. Randolph, eben erst der Provinz entkommen, schaute ungläubig dem wilden Treiben an den Landungsbrücken zu. Waren wurden ein- und ausgeladen, exotische Tiere wie Papageien oder Schlangen standen auf dem Schwarzmarkt zum Verkauf, bärtige Matrosen versoffen ihre Heuer in nur einem Abend, Huren bezirzten die willigen Rückkehrer, die mit müden Augen und schwankendem Schritt durch die Hafengässchen wankten. Die Seefahrer schienen ein Volk von Gefallenen zu sein, und Randolph befand sich mitten unter ihnen. Klamm wurde ihm ums Herz. Sein Vater hätte ihn geradewegs enterbt, hätte er ihn unter dieser Meute gewusst. Randolph konnte sich gerade noch ein kleines, schäbiges Zimmerchen in einer heruntergekommenen Pension leisten. Durch das kleine Fenster hatte er Blick auf den Golf von Triest und den grenzenlosen Horizont. Heimweh packte ihn, Heimweh nach dem Vertrauten und dem Gefühl, die Kontrolle über sich und sein Leben zu haben. In den Kleidern legte er sich aufs Bett und fiel sofort in einen tiefen Schlummer. Die Natur forderte ihr Recht, trotz des Kummers in seinem Herzen. Besser ging es ihm erst, als er ein paar Tage darauf Heinrich kennen lernte. Heinrich war Deutscher und fuhr schon seit zwanzig Jahren zu See. Heinrich lehrte Randolph alles, was man über das Matrosenleben wissen musste.

Rein äusserlich hatte Heinrich verblüffende Ähnlichkeit mit Sindbad, dem Seefahrer: Er war bärtig im ganzen Gesicht, auf seinem muskulösen linken Oberarm prangte ein Anker, und irgendwo hatte er sich noch eine Meerjungfrau tätowiert. An welcher Körperstelle, wollte er Randolph allerdings nicht verraten, und dabei grinste er dreckig, der Goldzahn in der hinteren Reihe blitzte auf. Heinrich bestellte einen Grog nach dem anderen und stellte sie Randolph vor die Nase.
«Richtige Seefahrer trinken Grog!», polterte er. Heinrich hatte offenbar einen gewissen Ehrgeiz entwickelt. Einen Ehrgeiz, den ihn, Randolph, betraf. Aus irgendeinem Grund sah er es als seinen persönlichen, inneren Auftrag an, aus Randolph den besten Matrosen aller Zeiten zu machen.

«Lektion eins», sagte Heinrich, «betrifft die Weiber».
Randolphs Augen weiteten sich. «Unsereins hat da viel gelernt von den Indianern. Drüben, auf dem anderen Kontinent.»
Randolph nickte wie ein beflissener Schüler. «Bist du neu auf dem Gebiet des Weiberns», Heinrich machte eine kunstvolle Pause, «und das bist du, das sehe ich dir an», und er fuhr fort: «verbringst du deine erste Liebesnacht mit einer Frau mittleren Alters.» Randolph musste an seine Mutter denken, schnell verscheuchte er den Gedanken wie eine lästige Fliege. «Die alten Weiber, die können dir einheizen, das kann ich dir sagen!», Heinrich geriet ins Schwärmen. «In nur einer Nacht bringen die dir alles bei, was du über das Liebemachen wissen musst. Lass die paar Falten Falten sein, das sind die besten Lehrerinnen.» Randolph nickte. «Die zweite Nacht», fuhr Heinrich fort, «verbringst du mit einem Mann.» Randolph schluckte leer.
«Mit einem Mann? Aber…»
«Ich weiss schon, was du sagen willst», unterbrach ihn Heinrich. «Dass du kein Schwanzlutscher bist, nicht wahr», und er lachte aus vollem Hals sein Bärentöterlachen. «Unsereins hat genauso gedacht. Doch darum geht es nicht. Du musst wissen, wie sich ein Mann anfühlt. Nur so kannst du wissen, wie es für die Frau ist. Verstehst du, du musst versuchen, dich in die Weibsdinger einzufühlen, nur so holst du den Anker ein.» Heinrich stutzte. «Du weisst doch, was ich meine, wenn ich sage, den Anker einholen?» Randolph wollte sich vor Heinrich nicht blamieren. «Padääm, du weisst schon, das Schiff klarmachen, die Segel hissen …» – «Ja, ja, ich weiss schon», murmelte Randolph.
«Die dritte Nacht und letzte Nacht», sagte Heinrich in feierlichem Ton, «verbringst du mit einer jungen, bildschönen Frau.»

Randolph lächelte in der Erinnerung an Heinrich, während er ein Feuer im Kamin entfachte. Der Gedanke munterte ihn auf. Was für ein derber Seebär Heinrich gewesen war! Manchmal dachte Randolph voller Wehmut, dass seine Seefahrerzeit doch die beste Zeit seines Lebens gewesen war. Die Holzscheite rauchten, Flammen züngelten. Randolph setzte sich in den Schaukelstuhl vor dem Kamin und schaute in die Flammen, das Feuer loderte, der Tigerkopf zu seinen Füssen blickte ihn aus glasigen Augen an. An alle Ratschläge vom guten alten Heinrich hatte er sich nicht gehalten, ein guter Matrose war er trotzdem geworden. Doch wenn Heinrich wüsste, dass Randolph nun sesshaft geworden war! Er würde sich im Grab umdrehen, schliesslich war Randolph überzeugt, dass Heinrich inzwischen von den Haien gefressen oder von den Indianern enthauptet worden war. Unter Matrosen galt nur ein gewaltsamer Tod als ehrenhaft. Die grösste aller Sünden war aber, sich irgendwo niederzulassen und sogar Herr über Ländereien zu sein so wie Randolph. Aber wer hätte auch ahnen können, dass er mit dem Verkaufen von Staubsaugern ein Vermögen anhäufen würde.

Als Staubsaugerverkäufer war Randolph geschäftlich in der ganzen Welt unterwegs gewesen. Irgendwann hatte er eine Vorliebe für vornehme Hotels entwickelt. In jeder Stadt suchte er instinktiv die exklusivste Adresse auf. Die livrierten Kellner und die Wohlgerüche gaben ihm immer das Gefühl, zwei Zentimeter über dem Boden zu schweben. Zudem war er für Ästhetik schon immer sehr empfänglich gewesen. Hotellobbys bedienten seiner Meinung nach diesen – seinen – Sinn für die Wohlgestalt der Dinge. Kurz gesagt: Randolph mochte es geschmackvoll. Ganze Nachmittage konnte er damit zubringen, in der Lobby zu sitzen, Kaffee zu trinken und Zeitung zu lesen. Und abends nach dem Eindunkeln wechselte er nahtlos über in die Bar. An Hotelkomplexen schätzte er vor allem, dass er nie weit zu gehen brauchte bis zur nächsten Sinnesfreude. Meistens schloss er in Windeseile Freundschaft mit dem Kneipenwirt und wusste bald Bescheid über Anzahl und Namen dessen Kinder, Erfolg oder Misserfolg ihrer Schulkarrieren und den Zustand seiner Ehe. Randolph war ein geselliger Mensch, der überall, wo er war, sofort Leute um sich scharte. Mit seinem wilden Sinn für Humor hatte er etwas Gewinnendes an sich, zudem strahlte er etwas Freigebiges, Grossherziges aus. Diesen Eindruck wurde nicht selten dadurch bestätigt, dass er komplett unbekannten Menschen Drinks bezahlte. Ja, in der Tat: Randolph wusste, wie man es krachen liess. So war es auch an jenem Abend gewesen, als Elaine in sein Leben trat.

Die dunkelhaarige Schönheit war ihm sofort aufgefallen, als sie in der schummrigen Hotelbar in der Ecke sass und an einem Sektkelch nippte. Randolph hatte bereits ordentlich getrunken und befand sich in jenem gefährlichen Zustand, in dem er, selbst wenn er sich anstrengte, nicht mehr genau sagen konnte, in welcher Stadt er sich gerade befand. Hongkong, Saigon oder war es doch Manila gewesen? Die Schönheit dieser Asiatin betörte ihn, sodass er auf der Stelle nüchtern wurde. So erging es ihm jedes Mal, wenn ihm eine Frau wirklich gefiel. Er gab sich innerlich einen Schubser und näherte sich der zierlichen Frau. Irgendwie gelang es ihm, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Elaine schien mässig interessiert, und Randolph begann zu schwitzen. Doch so schnell wollte er sich nicht geschlagen geben. Er bezahlte ihr Cocktail um Cocktail, in seiner Erinnerung trank sie sich durch sämtliche Farben des Regenbogens. So zum Affen hatte er sich schon lange nicht mehr gemacht für eine Frau! Doch es war ihm gleichgültig. Diese unnahbare Aura, mit der sich die Asiatin umgab, machte sie für Randolph nur noch begehrenswerter. Sein Jagdinstinkt war geweckt.

Irgendwann begannen sie sich zu küssen, zuerst zärtlich und dann immer leidenschaftlicher. Die Lippen der Asiatin schmeckten nach Erdnüsschen und Mandarinchen, eine ganz eigenartige Kombination, die ihn bis heute an diese erste Nacht mit Elaine erinnerte. Elaine war eine sehr sanfte Liebhaberin, ihr zarter, filigraner Körper umschlang den seinen mit viel Zartheit und gleichzeitig mit dem richtigen Mass an Druck. Ihre Haut war butterweich und schimmerte seiden, die sachte Berührung ihrer Haarspitzen auf seiner nackten Haut verursachte ihm Gänsehaut. Elaine war eine ausdauernde Liebhaberin, sie umschloss seine Härte mit ihrem Mund und liess ihre Zungenspitze kreisen, nur um kurz vor dem Höhepunkt von ihm abzulassen. Einmal. Zweimal. Zehnmal. Randolph war wie von Sinnen. Der Genuss dauerte die ganze Nacht und ergoss sich irgendwann gegen Morgengrauen in einen ekstatischen Höhepunkt. Randolph hatte nie ganz verstanden, warum die Natur es so angelegt hatte, dass der Höhepunkt auch gleichzeitig immer der Schlusspunkt war.

Etwas endete, und etwas Neues begann. Elaine sah im erbarmungslosen Licht des anbrechenden Tages kein bisschen weniger bezaubernd aus. Ihre Nacktheit war nur durch ein blütenweisses Bettlaken verhüllt. Trotzdem schien sie von der ganzen «Morgen-danach-Situation» völlig unbeeindruckt zu sein. Randolph schob den Gedanken, dass sie wirkte, als wäre das nicht ihre erste Nacht in einem fremden Fünfsternebett gewesen, weit von sich.
«Woher kommst du?», fragte er, im Bemühen, etwas mehr über sie zu erfahren als ihren Namen.
«Ist das so wichtig?», gab sie zurück.
«Bist du fremd hier in der Stadt?», versuchte er es weiter. Inzwischen war ihm auch wieder eingefallen, dass er sich in Saigon befand.
«Und als nächstes fragst du mich, ob ich dir die Stadt zeige?» Elaine zerwühlte ihm die Haare, stand auf und machte sich auf den Weg ins Bad. Ihr kleiner Hintern schwenkte beim Gehen hin und her. In diesem Moment wusste Randolph, dass er dieser Frau verfallen war.

Später – Elaine wachste wohl gerade ihre Beine oder war mit anderen Geheimnissen der weiblichen Schönheitspflege beschäftigt – versuchte Randolph krampfhaft, sich auf die Verhandlung mit einem wichtigen vietnamesischen Geschäftspartner zu konzentrieren. Sie sassen in der Hotellobby über Akten gebeugt, als eine Berührung am Arm bemerkte. Elaine stand vor ihm, in ein schwarzes, ziemlich knappes Kleid gehüllt, den Schmollmund mit einem pflaumenfarbenen Lippenstift geschminkt, und schaute ihn vielsagend an. Randolphs Herz setzte einen Takt lang aus. Die Höflichkeit erforderte natürlich, dass er die fremde Frau mit seinen Geschäftspartnern bekannt machte. Und weil alles andere in einem solchen Kontext unangemessen, um nicht zu sagen unmoralisch gewesen wäre, sah Randolph sich gezwungen, Elaine kurzerhand als seine Ehefrau vorzustellen. Elaine schien zufrieden und streckte den Herren lächelnd die Hand hin.

Randolph war nie verheiratet gewesen. Und das lag nicht nur daran, dass er nie die richtige Frau getroffen hatte. Randolph glaube nicht an die Ehe. Er hielt sie für etwas für Schwächlinge, die mit der Einsamkeit nicht umgehen konnten. Eine Ehe war für ihn eine Rettungsweste, auf die er nicht angewiesen war. Schliesslich konnte er schwimmen. Darüber dachte er jetzt nach, während er auf dem Rücksitz eines gelben Taxis durch die Nacht brauste. Randolph liebte es, in der Dunkelheit der Nacht durch Millionenmetropolen zu brausen. Wenn er nicht schlafen konnte, liess er sich manchmal stundenlang herumfahren. Einzutauchen in den Sog einer Stadt, die blinkenden Leuchtreklamen vorbeischnellen zu sehen, am besten zu den dröhnenden Beats einer fremden Welt aus dem Autoradio.

Heute Nacht allerdings kurvte er nicht aus Schlaflosigkeit kreuz und quer durch Saigon, sondern aus einem Fluchtbedürfnis heraus. Seine neue «Frau» Elaine wartete im Hotel auf ihn, wollte sich von ihm zum Sushi-Essen ausführen lassen. Es wurde spät, doch Randolph konnte sich einfach nicht dazu überwinden, zu ihr ins Hotel zurückzufahren. Er fühlte sich dieser plötzlichen Zweisamkeit nicht gewachsen. Ihre Art, ihn zu vereinnahmen wie Land, das sie zu besetzen fest entschlossen war, versetzte ihn in Panik. Sie Kolumbus. Er Amerika. Und doch war er zu schwach, sie daran zu hindern, dass sie ihre Flagge ins Sediment rammte. Es war der fünfte Tag seit ihrer Begegnung und seine Rastlosigkeit hatte ihren Höhepunkt erreicht. Seine Nerven waren zum Bersten gespannt. Er betrachtete die Bilder, mit denen der Taxifahrer den Innenraum seines Autos ausgeschmückt hatte. Bilder, von denen er glaubte, dass sie Teheran zeigten. Randolph beschloss, dass er schon immer mal in den Iran gewollt hatte.

Bei seiner Ankunft in Teheran empfing Randolph ein wolkenverhangener Himmel, es regnete in Strömen. Er kultivierte eine Mini-Depression. Beim Gepäckband musterte ihn ein anderer Fluggast mit Bart und Lederjacke so eindringlich, dass Randolph sich unbehaglich zu fühlen begann. Er überlegte, wie er zu erkennen geben konnte, dass er in freundlicher Absicht gekommen war. Schliesslich nahm er sein Büchlein mit Gandhi-Zitaten hervor, das er für solche Notfälle immer dabei hatte, und tat so, als würde er darin lesen. Er hoffte, dass Gandhi auch im Iran ein Begriff war. Der Bärtige mit den dunklen Augen nahm seinen Koffer vom Band und trat näher an Randolph heran.
«Müssen Sie in die Innenstadt? Mein Bruder wartet draussen, um mich abzuholen. Sie können mitfahren.»

Sein neuer iranischer Freund Agmal und sein Bruder schlugen noch einen kleinen Abstecher auf eine Party vor. Randolph erklärte sich einverstanden, schliesslich hatte er keine Pläne.
«Wir nehmen dich mit an eine sehr iranische Party», sagte Agmal und lachte. Das Haus sah von aussen unbewohnt aus. Kein Licht brannte, kein einziges Auto stand vor dem Haus. Sobald sie ausgestiegen waren, trat der Bruder aufs Gaspedal und fort war er. Randolph wurde es unbehaglich zumute. Agmal führte Randolph ums Haus herum und dort durch den Hintereingang in den Keller. Als sie den feuchten Kellerraum betraten, staunte Randolph nicht schlecht: Er war in eine illegale Pokerrunde geraten, an langen Tischen sassen stark geschminkte Frauen und zockten um die Wette. Die modischen Kopftücher waren im Eifer des Spiels nach hinten gerutscht und offenbarten einzelne Haarsträhnen. Auch einige Männer sassen am Tisch, andere standen im Kreis und tranken Hochprozentiges. Sein Gastgeber führte ihn zu der kleinen improvisierten Bar und schenkte ihm Whisky ein.
«Es gibt in diesem Land nur noch etwas, das sündhafter ist als Frauen und Alkohol», sagte er. «Glücksspiele.» Agmal grinste und trat zu einem der Tische. «Poker ist die Lieblingsbeschäftigung iranischer Frauen.» Randolph blickte in die Runde. Vier junge Perserinnen schauten ihn aus grossen mandelförmigen Augen an. In der Mitte häufte sich bereits ein Berg Dollarnoten. Sie forderten ihn zum Mitspielen auf. Da Randolph kein Bargeld für den Mindesteinsatz auf sich trug, zog er hilflos sein zerfleddertes Gandhi-Exemplar aus der Jackentasche. Ein Raunen ging durch die Runde. «Hast du noch mehr Bücher dabei?», bestürmten die Frauen ihn aufgebracht. Eine packte ihn sogar am Kragen. Schützend hielt Randolph seine Hände vors Gesicht.
«Nein, nichts mehr. Nichts mehr.» Als die Karten ausgeteilt wurde, wichen Spass und Ausgelassenheit einem plötzlichen Ernst. Randolph verlor sein Gandhi-Exemplar in der ersten Runde.

Er ging an die Bar, um sich etwas zu trinken zu holen. Eine junge Iranerin mit einem blumenbedruckten Kopftuch setzte sich neben ihn und zog eine Zigarre aus der winzigen Handtasche.
«Jeder Frau ihre Romeo & Juliet», sagte sie und machte sich daran, die Zigarre zu entzünden. Sie schmauchte genussvoll und taxierte ihn dabei eindringlich mit ihrem Blick. «Du bist mit Agmal hier, nicht wahr?» Randolph bejahte. «Wir haben uns vor einer Stunde am Flughafen kennengelernt.»
«Nimm dich in Acht, es gibt immer wieder Razzien bei solchen illegalen Versammlungen», sagte sie und pustete den Rauch in die Luft. «Ausländer sind nicht überall gern gesehen.» Randolph wurde es mulmig. Er beschloss, dass es vielleicht besser war, zu verduften. Als er vom Barhocker rutschte, schaute er geradewegs in den Lauf einer Pistole.

Randolph schüttelte ungläubig den Kopf, während er das Tigerfell mit dem Fuss streichelte. Manchmal konnte er heute noch nicht glauben, dass er das tatsächlich erlebt hatte. Diese Geschichte hatte Potential, er stellte sich vor, wie er sie in kalten afrikanischen Winternächten seinen Enkeln erzählen würde. Elaine hingegen hasste die Geschichte. Sie glaubte, er wollte ihr damit weh tun, schliesslich war er damals wegen ihr in den Iran geflüchtet. Er seufzte. Ja tatsächlich, damals war er wirklich mit einem blauen Auge davongekommen.

Sie hatten ihn auf den Polizeiposten gezerrt und ihn vier Stunden lang verhört. Doch weil ihm keine aufrührerischen Absichten nachgewiesen werden konnten, liessen sie ihn laufen, mit der Auflage, das Land innerhalb der nächsten 24 Stunden zu verlassen. Das erste Flugzeug, das er erwischen konnte, ging nach Dar es Salaam. Tansania – warum nicht? Er wollte einfach nur weg. Mit angespannten Nerven nahm er seinen Sitzplatz ein und wartete, bis die Maschine endlich auf die Startbahn rollte. Eine Frau mit schulterlangen Haaren tauchte in seiner Reihe auf.
«Hier sitzt Thaddäus Mistletoe», sagte sie und deutete auf den Sitz in der Mitte. «Ich nehme immer den Gangplatz.» Und schon wuchtete sie einen weissen Cellokoffer auf den Sitz zwischen ihnen. «Der Sitz ist bezahlt», sagte die Cellistin und zwinkerte ihm zu.

Randolph lauschte auf das verlässliche Brummen der Triebwerke, er schaute aus dem Fenster aufs Wolkenmeer, auf dem Sitz neben sich ein mannshohes Cello mit einem sonderbaren Namen. Die Cellistin schlief mit offenem Mund. Er kam sich idiotisch vor. Als das Essen serviert wurde, war die Cellistin wieder munter.
«Wissen sie», sagte sie mit gerecktem Hals, um Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, «ich muss dem Cello immer einen Namen geben.» Sie unterhielten sich über das Instrument hinweg. «Die brauchen einen fürs System.» Vielleicht war die Frau doch nicht so durchgeknallt, wie er anfangs befürchtet hatte.
«Ich habe nie verstanden, warum ein Cello so gross sein muss», brummte Randolph, während er ein Stück Poulet kaute.
«Sei froh, dass ich nicht Harfe spiele», gab die Cellistin zurück. Als der Pilot durch die Lautsprecher den Landeanflug auf den Flughafen von Dar es Salaam ankündigte, sass Randolph auf dem Mitteplatz und unterhielt sich angeregt mit der Cellistin. Grosszügig wie er war, hatte er Thaddäus Mistletoe den Fensterplatz überlassen.

Und so hatte er den Boden Tansanias zum ersten Mal betreten, mit einer Konzertcellistin und einem Cello namens Thaddäus Mistletoe im Schlepptau. «Mother Africa», jauchzte Barbara, kniete sich runter und küsste den Boden. Okay, vielleicht war die Cellistin doch etwas durchgeknallt. Das Gute an der Bekanntschaft mit Barbara war, dass sie hier jeden kannte. Und sie verlor keine Zeit, ihm alle einflussreichen Leute vorzustellen. Gleich am ersten Abend nahm sie ihn mit in den Klub, der nur Mitgliedern Eintritt gewährte. Barbara hatte sich für diesen Abend herausgeputzt, sie trug ein grünes enganliegendes Kleid mit Seitenschlitz. «Weisst du, Randolph, manchmal bin ich etwas einsam», vertraute sie ihm an. Aus einem Grund, den er selber nicht kannte, begann er Barbara von der jungen Filipina zu erzählen, die er brüsk in Saigon zurückgelassen hatte.
«Du musst sie heiraten», lallte Barbara, und hängte sich an Randolph. Den letzten Gin Tonic hätte sie nicht mehr trinken sollen. Sie weinte jetzt fast, zog ihn am Arm. «Du musst … sie… heiraten.» Sie hielt ihr Gesicht dicht an seins, ihr schlechter Alkoholatem in seinem Gesicht. «Du liebst sie doch», sagte sie fast trotzig. Ohne Vorwarnung begann sie zu schluchzen: «Ich wünschte, es gäbe einen Mann in meinem Leben, mit dem ich einen Weihnachtsbaum kaufen kann. Kein Auto, keine Kinder, kein Haus, nur einen gemeinsamen Weihnachtsbaum!», und dann legte sie sich hin und war Sekunden später auch schon in einen tiefen Schlummer gefallen. Barbara sägte auf dem Teppich des Klubs wie ein bärtiger Waldschrat.

Ob Barbara wohl einen Mann gefunden hatte, mit dem sie einen Weihnachtsbaum kaufen konnte?, grübelte Randolph. Es kam ihm vor, als würde es bereits Jahrzehnte zurückliegen, seit er nach Tansania gekommen war. Im gleichen Klub hatte er einen Bekannten von Barbara, einen Staatsangestellten, kennengelernt, der ihm die Farm zusammen mit den umliegenden Ländereien verkauft hatte. Randolph seufzte. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass er in kalten Winternächten nie mit seinen Enkeln um dieses Kaminfeuer sitzen und ihnen all die verrückten Geschichten seines Lebens erzählen würde. Er hielt inne.
«Elaine?» Es war plötzlich seltsam still im Haus. «Elaine?» Er stand auf und ging ins gemeinsame Schlafzimmer. Die weissen Bettlaken waren zerwühlt, Elaines Seidenkleid lag auf dem Boden. Das Zimmer war leer. Elaine war weg.

Der gelb-grüne Papagei im Schaufenster des kleinen Barbiergeschäfts krächzte ununterbrochen einen englischen Namen. Es hörte sich an wie «Lane.»
«Halt den Schnabel, Lady Montgomery!», tönte es energisch aus dem Laden. Ein Mann mit strähnigem langem Haar hantierte darin mit Schere und Kamm an der Haarpracht eines Kunden herum. Heute war viel Betrieb, schliesslich wollte sich jeder für das Weihnachtsfest herausputzen. Weihnachten wurde auf Goa gross gefeiert. Für die Festlichkeiten mussten Bärte gestutzt, Brauen gezupft und Haaröl aufgetragen werden. Der Duft von Seifenlauge lag in der Luft.
«Sie haben aber einen schönen Weihnachtsbaum hier im Laden», bemerkte eine Kundin anerkennend, die unter der Trockenhaube eine Zigarette rauchte. Der Barbier lächelte zufrieden. «Randy the Barber», stand in bunten Lettern an der Aussenfassade des kleinen Geschäfts.

Das Bücherschiff

(In: «Dreiundsechzig», Kameru Verlag)


Andrea setzte den Stift an und schrieb: «Rotmantelfrau sucht Lederjackenmann.» Sie legte den Kopf schief und schaute durch das Fenster des Café Cairo auf die winterliche Berner Altstadt hinaus. Die eng ineinander verschachtelten Häuser gefielen ihr. Wie sehr liebte sie diese Stadt! Leise sprach sie die Worte vor sich hin: «Rotmantelfrau sucht Lederjackenmann.» Sie schaute auf die Uhr. Ihre Mittagspause war fast vorüber, sie musste aufs Bücherschiff zurück. Sie schlüpfte in den roten Mantel, ihre Absätze klapperten auf dem Kopfsteinpflaster, als sie die schmale Gasse zur Anlegestelle hinuntereilte. Die alte Barke lag ruhig auf der winterlichen Aare. Sie liebte diesen eigenartigen Geruch, wenn sie den Bauch des Schiffes betrat; eine Mischung aus Staub, Motorenöl, Lack, Leim und Papier. Das Schiff war Teil eines Leseförderprojekts der Berner Bibliotheken. Jeden Mittwochnachmittag hatte Andrea Primarschüler zu Gast; kleine Piratinnen und Piraten, die mit Augenbinden und Schnurrbärten durch die Gänge stürmten und später beim Vorlesen mucksmäuschenstill an ihren Lippen hingen.

Als sie daheim die Haustür öffnete, kam ihr laute Musik entgegen. Lisa, ihre Mitbewohnerin, kochte gerade und hörte dabei laut Musik. «Möchtest du auch mitessen?», rief sie Andrea aus der Küche zu. Während des Essens kamen sie auf Andreas Lederjacken-Projekt zu sprechen. 
«Lass mich hören, was du bis jetzt geschrieben hast», drängte Lisa. Andrea wollte vor ihrer Mitbewohnerin nicht als Mauerblümchen dastehen. Doch Lisa gab keine Ruhe, bis Andrea die Notiz herausrückte. Ein Lächeln umspielte Lisas Lippen, als sie las: Rotmantelfrau sucht Lederjackenmann. Verträumte, eigenwillige Rotmantelfrau sucht liebevollen, verrückten Lederjackenmann zum Pferdestehlen! Lisa schaute Andrea zweifelnd an. 
«Also erstens zieht man mit einem Feministinnenmantel keine Männer an. Und zweitens: Was heisst hier Lederjacke. Es gibt so viele verschiedene, schwarze, braune oder dunkelgraue, das ist ein riesiges Spektrum. Rocker tragen Lederjacken, Punks, Goths, Metaller … Willst du etwa einen Metaller als Freund?»
Andrea zog eine zerknirschte Grimasse. Daran hatte sie wirklich nicht gedacht.
«Du mit deiner altersschwachen Arche. Komm lieber am Freitag mit mir zu dieser Party ins Metro.» Nachdem Lisa in ihrem Zimmer verschwunden war, spülte Andrea das Geschirr. Es war schwierig zu erklären, aber in einem knallroten Mantel fühlte sie sich lebensvoll und witzig, stark und selbstbewusst. Lisa behauptete, Männer fühlten sich von einer allzu selbstbewussten Frau bedroht. Aber für Andrea war der rote Mantel eine Art Zaubermantel, der all die schlechten Energien von ihr fern hielt.

«Ich suche einen Assistenten, der mir hilft, die Bücher, die zurückgekommen sind, wieder in die Regale zu räumen», erklärte sie dem jungen Mann, der ihr am nächsten Tag im Bücherschiff gegenüber sass. Er war ihr vom Arbeitsamt empfohlen worden. «Trauen Sie sich das zu?» Der junge Mann mit dem gelockten Haar nickte. Er trug eine Wolljacke und machte einen sehr zurückhaltenden Eindruck.Andrea entschied, Momo einzustellen. Ein Energiebündel hätte sie auf dem Bücherschiff nicht brauchen können. Dass Momo eine gute Wahl gewesen war, zeigte sich bereits am Nachmittag. Er begriff rasch und verrichtete in Ruhe seine Arbeit. «Woher aus Ägypten kommen Sie eigentlich, Momo?», fragte Andrea.«Aus Luxor. Das Haus meiner Eltern liegt direkt am Nil.»
Darüber hätte Andrea gern mehr erfahren. «Kommen Sie auch noch rasch ins Café Cairo?», fragte sie, als sie gegen halb sieben das Bücherschiff zusperrten. Doch Momo schüttelte den Kopf. «Ich muss noch beim Arbeitsamt vorbei», erklärte er kurz angebunden. Sie schaute ihm nach, wie er davonging. «So ein schüchterner Typ», dachte sie.
In dieser Nacht fand sie kaum Schlaf. Als sie dann endlich in einen unruhigen Schlummer fiel, träumte sie von einer hölzernen Feluke und von Dorfbewohnern, die am Fluss ihre Kleider wuschen.Am nächsten Tag war sie früher im Bücherschiff als sonst. Momo kam erst später und sie wollte die ruhigen Morgenstunden nutzen, um in Ruhe nachzudenken. In der Nacht war ihr eine Idee gekommen. Als Momo gegen zehn eintraf, fragte sie ihn: «Wie wär‘s, wenn Sie mir bei einem Recherche-Kurs für Jugendliche helfen würden? Sie sind der Experte und die Jugendlichen müssen Ihnen Fragen über das Leben in Ägypten stellen.»
«Das würde ich sehr gern machen.»
«Perfekt! Ich freue mich.» Spontan gab Andrea ihm die Hand. Zum ersten Mal fiel ihr sein angenehm fester Händedruck auf. «Nennen Sie mich doch Andrea», schlug sie vor. «Wir müssten noch die Einzelheiten besprechen», fuhr sie fort. Momo zögerte einen Moment, dann sagte er: «Darf ich dich heute Mittag zu einem kleinen Lunch einladen? Ich koche etwas Ägyptisches.» Andrea wusste nicht, ob das professionell war, aber ihre Neugierde war stärker und sie sagte zu. Sie räumte auf und rückte ein paar Stühle zurecht, dann machte sie sich auf den Weg, den Momo ihr beschrieben hatte. Sie klingelte an der Haustür, es summte und die Tür gab nach. Die Wohnungstür im dritten Stock war nur angelehnt. Sie klopfte kurz und trat ein. Der Geruch von Essen stieg ihr in die Nase. Doch da war noch etwas anderes. Es war ein fremder und doch so bekannter Geruch, sie erkannte ihn nicht gleich. Dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Es war der Geruch von Leder. An der Garderobe hing eine Lederjacke.

Geräucherte Rentierherzen

(In: «Der Sklave der Wikingerin», Vidal Verlag)

Schnee erhellt die Landschaft, in der stillen Ödnis des klirrend kalten Wintermorgens lässt sich schemenhaft eine Reihe verschneiter Nordmannstannen erkennen. Kahle Äste ragen in den Himmel, um die Wipfel kreisen Raben und krächzen. Hendrik steht am Strassenrand, den Kragen seiner dicken Daunenjacke hochgezogen bis zum Kinn. Er hat Glück. Schon nach wenigen Minuten hält ein Auto. Mit klammen Fingern öffnet er die Beifahrertür und späht ins Innere des rostroten Gebrauchtwagens.

«Hallo», begrüsst er die Lenkerin, «dürfte ich mitfahren? Ich muss in die Stadt.» «Na klar, hüpf rein, ist ja auch eine Schweinekälte da draussen», erklingt eine weibliche Stimme aus dem Innenraum. Hendrik lässt sich auf den Beifahrersitz gleiten, behutsam zieht er die Beifahrertür zu, verstaut seine geröteten Finger sofort im Jackenärmel.
«Hast wohl deine Handschuhe zu Hause vergessen?», bemerkt die Fremde. Hendrik hebt den Kopf und schaut in ein offenes Gesicht. Am Hinterkopf werden die dunklen Haare von einem goldgelben Tuch zusammengehalten. Ihre blasse Haut mit den Sommersprossen und die wässrig-blauen Augen sehen sehr nordisch aus. Er schätzt sie auf Mitte dreissig.
«Mmm-mm», sagt er unbestimmt, reibt die Handflächen aneinander. Die Fahrerin dreht den Schalter der Heizung voll auf, Hendrik spürt, wie die Wärme in seine Glieder zurückkehrt.
«Möchtest du eine Tasse Kaffee?» Die Autofahrerin deutet mit dem Kinn zu einer grossen Thermosflasche, die zwischen den beiden Sitzen thront. Sie trägt wollene Pulswärmer an den Handgelenken. «Im Handschuhfach gibt es Tassen. Du kannst mir auch gleich eine eingiessen.»
Hendrik schaut sie überrascht an, beugt sich dann vor, öffnet umständlich das Fach, wo mehrere Keramiktassen sauber geputzt auf ihre Verwendung warten. Er nimmt eine grüne Tasse mit einem Smiley heraus, führt sie unter die Kanne, drückt darauf, ein Strahl schwarze Flüssigkeit schiesst heraus. Dankbar nimmt die Frau die dampfende Tasse entgegen, nimmt den ersten Schluck.
«Das weckt meine Lebensgeister. Nimm dir auch einen.»
«Danke, ich trinke lieber Tee.» Er dreht den Kopf zum Fenster, draussen gleitet der Wald vorbei.
«Wohnst du hier in der Nähe?», bricht die Fremde die Stille.
Hendrik wendet sich ihr nur halb zu, als er sagt: «Hundert Meter von dem Ort, wo du mich mitgenommen hast.»
«U-u-u, das ist aber ganz schön abgelegen.»
Hendrik zuckt die Schultern.
«Lässt du dich jeden Tag von jemandem mitnehmen?»
Hendrik schaut aus dem Fenster.
«Nur wenn ich den Bus verpasse.» Nach einer kleinen Pause fügt er hinzu: «Zum Leidwesen meines Bosses passiert das in letzter Zeit fast jeden Tag.»
«Ich wette, nicht alle Norweger sind solche Plappermäuler wie ich.»
Er deutet ein Lächeln an. «Die meisten sind recht schweigsam.»

Draussen wird es heller, in der Ferne schimmern die ersten Lichter der Stadt. «Ich würde den Bus auch dauernd verpassen. Deshalb habe ich ein eigenes Auto, auch wenn es nur eine Schrottkarre ist.» Sie tätschelt auf das Lenkrad ihres Golfs. «Wenn ich nur zwei Minuten zu spät komme, gehen meine Schüler wieder nach Hause. Da kennen sie kein Pardon.»
Erst jetzt fällt Hendrik auf, dass sich auf der Rückbank Hefte stapeln.
«Sie sind sicher eine gute Lehrerin», entfährt es ihm.
Sie lächelt. «Vor allem, wenn ich vergesse, Tests zu machen, weil ich so chaotisch bin. Das mögen meine Schüler ganz besonders an mir.» Sie schaut ihn an, bricht in Gelächter aus. «Ich heisse übrigens Jorun.» Sie schaut ihn auffordernd an, dann heftet sie ihren Blick wieder auf die Strasse.
«Und dein Name?»
«Oh, entschuldige, ich heisse Hendrik.»
«Hendrik, magst du Musik?» Er nickt. «Ich bin Bassistin in einer Viking Metal-Band. Am Samstag ist unsere CD-Taufe in der alten Scheune.» Am ersten Rotlicht am Stadtrand bringt sie das Auto zum Stehen, greift nach hinten in ihre Tasche und drückt ihm einen Flyer in die Hand.
«Die Tochter der Wikinger», liest Hendrik. «Ein eigenartiger Bandname.»
«Und wie. Und ich garantiere dir: Genauso eigenartig ist unsere Musik.»
Er deutet auf eine Werkstatt, in der ein schwaches Licht brennt.
«Du kannst mich gleich dort vorne absetzen.»
«Ich habe mir schon gedacht, dass du etwas mit den Händen arbeitest. Schreiner?»
«Metallbauschlosser», erwidert Hendrik und starrt nach unten.
«Dann musst du erst recht kommen», lacht Jorun auf. Verdutzt schaut er auf.
«Na ja, Viking Metal, Metallbauschlosser … das passt doch.»
«Der Beruf ist nicht gerade meine Passion. Aber mal sehen. Auf jeden Fall vielen Dank fürs Mitnehmen.»
«Keine Ursache.» Er öffnet die Autotür.
«Du kannst auch spontan entscheiden wegen Samstag», sagt sie und kurz, bevor sich die Tür schliesst, hört er sie noch sagen: «Ich lasse dich auf die Gästeliste setzen.»

Vor der alten Scheune brennen Fackeln. Hendrik ist froh, dass nur eine Handvoll Leute beim Eingang steht.
«Hi. Mein Name ist Hendrik. Ich bin auf der Gästeliste», sagt er leise.
Der freundliche Mann überfliegt das Papier, das er vor sich liegen hat.
«Ach ja, hier. Gefunden. Du bist ein Freund der Wikingerin. Sie ist noch mit Magnus an der Bar. Geh doch rüber, sie freut sich sicher.» Er wedelt mit der Hand in die Richtung, aus der die Musik kommt. Hendrik bedankt sich und tritt in die wohltuende Dunkelheit. Er erkennt Jorun nicht gleich auf Anhieb, sie trägt ein Tank Top aus Leder und einen Rock, dazu Fellstiefel, quer über die obere Hälfte der Wange hat sie sich zwei dunkle Streifen gemalt. Sie und Magnus sitzen sich sehr nah. Hendrik will kehrtmachen, doch Jorun hat ihn schon gesehen.
«Hey, Hendrik, du bist also doch gekommen!» Sie umschlingt ihn mit ihren nackten Armen, Hendrik errötet.
«Darf ich dir Magnus vorstellen, der Sänger der Band und mein Freund.» Magnus drückt Hendrik an seinen verstaubten Fellumhang, sodass Hendrik husten muss. «Oh, entschuldige», sagt der Waldschrat, seine warmen braunen Augen strahlen Gutmütigkeit aus. «Ich wollte dich nicht ersticken.» Beide müssen lachen.
«Bist du noch rechtzeitig gekommen?», fragt Jorun. «Ich habe ihn am Mittwoch nach Narvik mitgenommen», erklärt sie, an Magnus gewandt.
«Ja, ging alles gut, danke nochmal. Und vielen Dank für die Einladung.»
«Hendriks Chef ist ein bisschen schwierig», informiert Jorun.
«Na ja, eigentlich ist mehr der Beruf das Problem und nicht der Chef. Das Material, mit dem ich arbeite, ist hart, es fühlt sich tot an unter meinen Händen.
«Arbeite doch mit Holz», schlägt Magnus vor.
«Magnus hat seine Küche selbst gezimmert.» Jorun schaut zu ihm auf und berührt mit der Hand seine Schulter. «Die sieht total schön aus. Und das Beste ist, dass er jeden Sonntag in seinem selbst gebauten Ofen Rentierherzen für mich räuchert.»
Magnus zuckt schuldbewusst die Schultern und sagt zu Magnus:
«Tja, ich bin ihr eben verfallen. Man nennt mich auch der Sklave der Wikingerin.»
«Eins, zwei, drei», klingt es von der Bühne herüber.
«Soundcheck», sagt Jorun. «Wir müssen.» Die beiden wenden sich zum Gehen.
Hendrik schaut ihnen nach, in ihren auffälligen Kostümen, wie sie sich an den Händen halten und Richtung Bühne tänzeln, leicht und unbeschwert, und trotzdem irgendwie angekommen im Leben.
«Geräucherte Rentierherzen», murmelt Hendrik, schüttelt den Kopf und lächelt leise in sich hinein.

Erschienen in: Der Sklave der Wikingerin. Kurzgeschichten aus der Schweiz. Fatima Vidal (Hrsg.), 2018

Der Killerblick

Neulich im improvisierten Fotostudio: Eine Freundin fotografiert mich für den Lebenslauf. Auf einem der Bilder habe ich meine Fransen nach hinten gesteckt, was so wirkt, als würde ich die Haube einer Ordensschwester tragen. «Mit diesem Foto könntest du dich glatt fürs Kloster bewerben!», sagt meine Freundin und wir lachen. Dann gibt es noch die Fotos mit Blazer, wo ich aussehe wie der Werbebroschüre einer Grossbank entsprungen. Eigentlich hätten wir das gerne weitergeführt – das ganze Spektrum von der Heiligen bis zur Hure. Auf Bewerbungsfotos soll man lächeln, aber ja nicht zu stark, weil das wieder unprofessionell wirkt. Brav und strebsam soll man aussehen. Und dabei auch noch sympathisch wirken. Mir schwirrt der Kopf. Hilfe, ich brauche Schauspielunterricht! Und beim Bewerbungsgespräch werden wir dann trotzdem wieder angehalten, authentisch zu sein. Ein Gedanke frustriert mich besonders: Lange Jahre habe ich damit zugebracht, herauszufinden, wer ich wirklich bin, nur um es in einem Bewerbungs-Kontext tunlichst wieder verschweigen zu müssen. Dabei sucht jedes Unternehmen Persönlichkeiten. Persönlichkeiten ganz ohne Ecken und Kanten, aalglatt und debil lächelnd wie auf dem Bewerbungsfoto. Ich bin keine Hure und keine Heilige, ich bin ein Mensch mit Einfühlungsvermögen, der den Anspruch hat, einen interessanten Job zu finden. Wie viele andere auch. Aber ein Ass im Ärmel habe ich noch: Auf einem der Nonnen-Fotos habe ich den absoluten Killer-Blick. Der jagt sogar mit Angst ein. Und den HR-Leuten hoffentlich auch.

Schafft den Sonntag ab

«Für Singles ist der Sonntag einfach der beschissenste Tag der ganzen Woche!» Das kam so ehrlich und aufrichtig aus dem Mund von Kaktusblüte, dass mich sogleich das Bedürfnis überkam, mich demütig vor ihr niederzuknien und sie gleichzeitig stürmisch zu umarmen. Mit diesem Satz spricht sie mir und Millionen von anderen Singles rund um den Erdball aus tiefstem Herzen. Am Sonntag hat man sich als Single gefälligst selbst zu genügen, denn Sonntag ist Familientag. «Normale» Leute verbringen den Sonntag mit dem Partner und – falls vorhanden – den Kindern. Der Sonntag ist der Familienpicknick-Tag, der Connyland-Ausflugtag oder der Im-Bett-bleiben-lesen-und-vögeln-Tag. Es gibt nur wenig, was sich in der globalisierten Welt an traditionellen Werten halten konnte, der Sonntagsbratenschmaus mit anschliessendem Spaziergang hat den Sprung in die Moderne leider geschafft.
Ich möchte nicht wissen, wie viele Singles sich am Sonntag im Fitnesszentrum auf den Geräten abstrampeln, nur um gegen die Leere anzukämpfen, die sich in ihrem Innern breit macht, ihnen den Hals zuschnürt und ihnen das Herz schwer werden lässt. So ein leerer Sonntagnachmittag kann zentnerschwer auf einem liegen, so viel kann ich rübermorsen von meinem beziehungslosen Planeten. Am Tag der Gemeinschaft auf sich gestellt zu sein, steigert die gefühlte Einsamkeit – und, je nach vorüberziehendem Tiefdruckgebiet – auch die Verzweiflung.

Und was ist das Erste, was wir gutmütigen Single-Freundinnen intuitiv tun, wenn eine unserer Freundinnen verlassen wird? Wir sorgen für die Sonntagnachmittagsunterhaltung. Wir laden zum Kaffee, ins Kino oder ins Museum. Weil Liebeskummer und das Sonntagsgefühl sich schlecht vertragen. Schonen, schonen, schonen ist jetzt oberstes Gebot, die Freundin soll keinesfalls diesem klammen Gefühl ausgesetzt sein, das für uns zum Alltag gehört. Wenn wir ehrlich sind, geniessen wir die unerwartete sonntägliche Gemeinschaft. Obschon der Nachgeschmack etwas schal ist im Abgang. Denn wir wissen genau, dass wir nur die Lückenbüsser sind. Sollte sich das ganze Trennungsdesaster bei Lichte betrachtet doch nicht als ganz so tragisch erweisen, sitzen wir bereits nächsten Sonntag wieder ohne Begleitung im Café. Doch dieses Risiko gehen wir ein. Schliesslich haben wir nichts zu verlieren. Ausser einem weiteren dumpfen Sonntagnachmittag.

Lebensabschnittsmöbel

Gegenstände können auf vortreffliche Weise einen bestimmten Lebensabschnitt symbolisieren. Mit achtzehn ist es oftmals das erste eigene Auto: Es drückt die neu gewonnene Unabhängigkeit aus, es steht für Aufbruch. Das erste eigene Auto bedeutet: Ich ziehe los, um die Welt zu erkunden. Jeder neue Lebensabschnitt weckt in dieser Hinsicht wieder neue Begehrlichkeiten.
So träumen die Amazonen und ich von einer freistehenden Badewanne mit Löwenfüsschen. Das wär’s! Die Römerin gibt jedoch zu Bedenken, dass wir uns definitiv noch nicht in dieser Lebensphase befinden. Eine freistehende Badewanne mit Löwenfüsschen, das klingt nach grossen Wohnräumen mit hohen Decken und grossen Fenstern; es klingt ein bisschen nach Künstlerdasein, auch nach Yuppie-Style. Doch niemand von uns hat sich schon so weit emporgearbeitet, dass wir nur im Entferntesten an so ein mondänes Leben denken könnten.
Die Römerin zum Beispiel steckt momentan in der Lebensabschnittsphase «Bettsofa». Sie bewohnt ein Studio, und da sie oft künstlerisch tätig ist und den Boden benutzt, um zu arbeiten, würde ein Bett zu viel Platz versperren. Ein Bettsofa kann sie schnell aus-ziehen und am Morgen nach dem Aufstehen wieder wegräumen. Ein Bettsofa-Besitzer hat sich zwar noch nicht richtig im Leben eingerichtet, hat sich aber dafür entschieden, seinen Träumen Raum zu geben. Einen Schritt weiter ist Lockenkopf. Sie ist gerade mit ihrem Freund in eine Altbauwohnung gezogen – die Betonung liegt auf Altbau. Denn es gibt Stimmen, die beharrlich behaupten, ihre Wohnung sei gar keine Altbauwohnung. Lockenkopf hat sich wohl ein bisschen in die Vorstellung vernarrt, in einer coolen, alternativ angehauchten Altbauwohnung zu leben. Wohl deshalb hat sie sich bei nächster Gelegenheit bei der Verwaltung erkundigt, was denn eigentlich die typischen Merkmale für eine Altbauwohnung sind…
Immerhin wohnen wir alle noch zu Miete. Spätestens wenn wir anfangen, uns nach Landparzellen umzusehen, die wir bebauen können, sind wir definitiv im Begriff, in eine nächste Lebensphase überzutreten. Doch vorher kommt ja noch die Phase mit der freistehenden Badewanne und den Löwenfüsschen. Die möchte ich auf keinen Fall verpassen.